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Kultur: Mit 240 über die Autobahn

Begegnungen mit Schlingensief (1)

Am Samstag starb der Regisseur Christoph Schlingensief. Seine Arbeit hat begeistert, aufgewühlt – und verstört. Erinnerungen an einen großen Künstler.

Ich bin Christoph Schlingensief nie leibhaftig begegnet. Das heißt, in Bayreuth saß er in einer „Parsifal“-Pause einmal am Nebentisch, aber da springt man ja auch nicht gleich auf, Erlösung dem Erlöser, wie gut, Sie hier zu sehen. Sein Händedruck soll übrigens eher weich gewesen sein, er hat den Menschen die Hand gegeben – wirklich gedrückt hat er sie nicht. Eine meiner klügsten und liebenswertesten Freundinnen schwärmt bis heute von dem Augenblick, da Christoph Schlingensief ihr die Hand gab.

So war ich nie. Ich war nie ein Schlingensief-Mensch, und vielleicht ist es genau das gewesen, was jener fatale Abend beim Brüsseler Kunstfest im Mai offenbarte. „Intolleranza II“ (frei nach Luigi Nono) stand auf dem Programm, das erste aus Schlingensiefs Operndorf entsprungene Projekt, über Mitteleuropa wehte die Aschewolke, die Darsteller aus Burkina Faso froren, und ich fühlte mich genötigt. War ich eigentlich hier, um ein ästhetisches Urteil zu fällen oder um einem sterbenskranken Künstler die letzten (kritischen) Sakramente zu reichen?

Eine absurde, bornierte Frage. Trotzdem entschied ich mich für die Kunst. Ich entschied mich dafür, Schlingensief beim Wort zu nehmen, bis zuletzt, und seine Mitteilungslust zu problematisieren, seinen Kunstanspruch. Mein Bemühen gipfelte in der (so plakativen wie provokativen) Frage, ob Schlingensiefs Theater uns jenseits seiner Wünschelrutengänge und Bauchrednereien noch etwas zu sagen habe. Das wiederum konterte Schlingensief im Interview mit der Zeitschrift „Spex“ fundamentalistisch, mit der Überwindung des Theaters, für die er stehe: „Was soll ich einer Frau Lemke-Matwey denn sagen, wenn sie findet, dass mein Theater für sie zu schnell sei? Soll ich dann, wie Frau Lemke-Matwey, auf der Autobahn mit 60 Stundenkilometern fahren, obwohl mein Auto auch 240 kann?“ Wir haben uns tatsächlich nicht verstanden.

Die „Intolleranza II“-Aufführungen in Brüssel sind die letzten gewesen, bei denen Schlingensief selbst auf der Bühne zu erleben war. Mal „Wo sind meine Tabletten?“ ins Mikro brüllend, mal über Hotel-Klimaanlagen und Kunst als Kolonialismus räsonierend. In Hamburg, Wien und München, wo das Projekt wenig später gezeigt wurde, war ihm das bereits nicht mehr möglich.

Bisweilen übernimmt die Redaktion von „Zeit“-Online Texte aus dem Tagesspiegel. So auch hier. Daraufhin hat Schlingensief sich in Hamburg bitter beschwert, und mich ereilte ein Anruf des Feuilletonchefs, ich möge diesen Konflikt doch bitte durch einen Anruf bei Schlingensief aus der Welt schaffen, hier seine Handy-Nummer. Ich habe es nicht getan. Ich fand, dass Schlingensief schon selbst anrufen müsse, wenn er mich beschimpfen wolle. Schade. Seine Handy-Nummer aber habe ich aufgehoben. Christine Lemke-Matwey

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