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Kultur: Mit 98 hat man noch Träume

Avatare, Seher, Trambahnfahrer: Beobachtungen beim internationalen Filmfestival von Tokio

Der Mori Tower im Distrikt Roppongi ist ein prachtvoller Wolkenkratzer. Auf einem knappen halben Hektar Grundfläche schwingt er sich in feiner Rundung 238 Meter in den Himmel über Tokio hinauf, und vom Skydeck aus hat man, zumal an klaren Abenden, einen fantastischen Ausblick auf die 30-Millionen-Megalopole. In den unteren Etagen locken feine Geschäfte zum Shopping, auf dem Vorplatz ist das todschicke Toho-Megaplex fürs Kinovergnügen da – was will der stolze und gutverdienende Hauptstadtbewohner mehr? Nur ein winziges Ärgernis trübt da den Blick: Der hässliche Hochhauskomplex Tokio Midtown ganz in der Nähe ist noch ein paar Meter höher.

Mit dem Mori Tower hat das internationale Filmfest der Stadt (TIFF) vom nahen Festivalkino bis zum Filmmarkt jenseits der 50. Etage einen strahlenden Standort – und doch einen von symbolträchtigem Bitterstoff. Denn auch das moderne und repräsentative Festival, soeben zum 23. Mal ausgerichtet, ist nicht die Nummer eins in der Region. Was die internationale Relevanz angeht, steht es im Schatten der erst halb so alten Konkurrenz im südkoreanischen Pusan, und nebenan schickt China, das in Schanghai ein immer attraktiveres Festival unterhält, sich an, die japanische Filmindustrie endgültig zu überflügeln. Noch ist Japan mit seinen 130 Millionen Einwohnern in Sachen Kinoumsatz weltweit führend hinter den uneinholbaren USA, aber auch damit dürfte, so schätzt TIFF-Chef Tom Yoda, spätestens nächstes Jahr Schluss sein. In Sachen Produktion ist China mit über 450 Filmen pro Jahr schon 2009 an Japan vorbeigezogen.

Yoda, der vor zwei Jahren neben allerlei anderen Chef-Jobs in der Unterhaltungsindustrie die TIFF-Führung übernommen hat, sieht die Aktivitäten der Nachbarn mit buddhistischer Gelassenheit. Zu Pusan gebe es „keinerlei Konkurrenz“, und angesichts von China entschlüpft ihm allenfalls, dass Japan „ohne Zensur“ auskomme. In einem Detail allerdings, das er bei Amtsantritt selbst eingeführt hat, kann er fraglos Exklusivität beanspruchen. Der Teppich ist in Tokio nicht rot, sondern grün – Zeichen allumfassenden Öko-Engagements. Das Kontrastkonzept geht so weit, dass TIFF-Offizielle bei feierlichen Anlässen grüne Fliege zum schwarzen Anzug tragen, allen voran Yoda selbst, der sich gern im hellgrünen Blazer zu dunkelgrüner Hose zeigt. Nur der massenwirksame Auftritt von Shrek am Eröffnungsabend war wohl eher der Ökonomie als der Ökologie geschuldet, mit einem Stich ins Oliv.

Abseits vom grünen Teppich präsentierte sich das japanische Kino – wenn auch ohne Prominenz vom Schlage eines Takeshi Kitano oder Hayao Miyazaki, die ihre Premieren in Cannes, Venedig oder Berlin feiern – in äußerst vielseitiger Form. Gar nicht weit hatte es das Publikum in Takafumi Hatanos „SP – The Motion Picture“, der Kinoversion eines erfolgreichen TV-Actionthrillers. Denn gleich die erste Szene spielt auf der Freifläche vor dem Mori Tower. Hunderte von Menschen versammeln sich zu einer Kundgebung, und der Held Inoue, ein mit seherischen Fähigkeiten begabter Personenschützer, kann ein Bombenattentat gerade noch vereiteln. Daraufhin – und das ist eine durchaus schweißtreibende Erfahrung für den Zuschauer – wird vor allem Inoue gejagt. Wovon die geschützten Politiker freilich nichts ahnen.

Weniger leicht folgt der ausländische Besucher der nicht untertitelten ersten rein japanischen 3-D-Produktion, „Garo – Red Requiem“, auch dies die Transposition einer TV-Serie ins Kino. Sie spielt in einem finster futuristischen Tokio mit zahllosen Kämpfen immer streng Mann gegen Mann und Frau gegen Frau, wobei dem Helden zupass kommt, dass er sich in höherer Bedrängnis stets in das gülden blinkende Monster Garo verwandelt. Vor der Vorstellung gab sich das Premierenpublikum enthusiastisch, bis hin zu kreischenden Girlies beim Auftritt der prächtig kostümierten Protagonisten. Nach gehabtem Gemetzel in durch die 3-D-Brillen noch einmal abgetönter Düsternis war die Ernüchterung allerdings beträchtlich. Allzu riesig vor allem der Abstand zu James Camerons „Avatar“, einem Top-Hit ganz besonders bei den fantasy- und comicverliebten Japanern.

Den Weg in den Westen dürften eher die stillen Dramen machen, mit subtileren Erschütterungen, als sie im Genre-Kino üblich sind. „Post Card“, mit dem der 98-jährige Autorenfilmer Kaneto Shindo – anders als der bis in die Unendlichkeit weiterfilmende Portugiese Manoel de Oliveira – sein Werk beschließen will, hat dafür mit dem Spezialpreis der von Neil Jordan angeführten Jury einen schönen Schub bekommen. Als Schauplatz der Tragödie aus dem Zweiten Weltkrieg genügt ein ländliches Reetdachhaus: Hier schickt ein altes Paar nacheinander seine Söhne in den Krieg und verliert sie an ihn, hier sterben die Alten vor Kummer dahin, und die Schwiegertochter richtet sich in Armut und Einsamkeit ein. Als ein Kamerad ihres Mannes aus dem Krieg heimkehrt und ihr die titelgebende Postkarte überbringt, bricht sich in den beiden innerlich verschütteten Menschen der Lebenswille so zögernd wie wuchtig Bahn.

Neben diesem klaren, kargen Drama konnten vor allem zwei Literaturadaptionen bestehen. Yoichi Higashi verfilmte in „Wandering Home“ die Autobiografie von Yutaka Kamoshida, der seinen Alkoholismus ausgerechnet mit Hilfe der Ex-Frau und der beiden Kinder überwindet. Die Hauptfigur Yasu, gespielt von dem japanischen Star Tadanobu Asano, wechselt zwischen Familie und Klinikaufenthalten – und kein exemplarisches Sozialdrama entwickelt sich, sondern eine zarte Tragödie von schließlich erschütternder Sonnigkeit.

Kazuyoshi Kumakiris „Sketches of Kaitan City“, nach einem posthum veröffentlichten Romanfragment von Yasushi Sato, wirkt dagegen wie ein Omnibusfilm lose verbundener Episoden, nur dass da eine Tram durch eine Stadt im winterlichen Norden Japans fährt. Ein Werftarbeiter, der seinen Job verliert, ein Familienvater, der sich mit einem Gasflaschenladen ruiniert, die müde Belegschaft einer Hostessenbar, der einsame Mitarbeiter des Planetariums, eine alte Frau, um deren Holzhaus herum Baugruben ausgehoben werden: Der Zweieinhalbstundenfilm zieht seine Zuschauer an den unwirtlichen Rand einer Welt, in der Lebenshunger und Hoffnungslosigkeit nur zwei Seiten einer Münze sind. Wertlos ist sie, egal, wohin sie fällt.

Kaitan City wird man bei Google-Maps vergeblich suchen. Auch Tokio überwältigt den Fremden wie eine fiktive Stadt, wie ein Science-Fiction-Thrill, ein Traum, ein Film. Aber davon ein andermal.

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