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Menschen im Wartesaal.

© Imago

Griechischer Alltag (1): Klinikbesuch: Mit dem Tod im Wartesaal

In Griechenland steht das Gesundheitssystem vor dem Kollaps. In den Kliniken herrscht dennoch Respekt und Fürsorge. Und das ist nötig, wenn Menschen Hilfe brauchen.

Während der letzten Wochen war ich jeden Tag eine Zeitlang im Krankenhaus, zu einer Therapie. Als sich die Lage noch nicht zugespitzt hatte, zeigte der Fernseher im Warteraum immer ein Morgenmagazin: Schlanke Frauen wandten Schlankheitscremes an, um noch schlanker zu werden. Nach dem Wochenende, an dem die Geldautomaten geschlossen wurden, bekamen wir dann ein anderes Unterhaltungsprogramm. Wir sahen nur noch Sondernachrichten.

Wenn man Tag für Tag mit anderen Kranken in einem Wartesaal sitzt, entwickelt sich etwas Merkwürdiges. Es entstehen Bündnisse, Freundschaften, ein Gefühl der Neugier auf das Leben und die Krankheiten der anderen. Ein minimales soziales Netz wird geknüpft. Als Kranker fühlt man sich isoliert, man ist oft verbittert, zornig. Aber wenn sich die Krankheit verbreitet – wenn das ganze Land zum Patienten wird – entwickelt sich der Kranke in der Klinik zum gelassenen Philosophen und bekommt durch die private Tragödie einen Sinn für das Maß.

Das Leben ist keine asphaltierte Autobahn

Die dreißig Menschen, die ich im Warteraum traf, waren vielleicht die einzigen Griechen, die nicht stöhnten und sich ans Herz griffen. Sie spürten am eigenen Leib, dass Gesundheit nichts Selbstverständliches ist. So begann ich, sie intensiv zu beobachten, weil ich dachte, ich könnte etwas von ihnen lernen. Und wenn ich das, was ich lernte (es wurde von der Vereinbarung am Montag bestätigt) dechiffrieren könnte, würde ich es wie folgt zusammenfassen: Nur Ruhe, das Leben ist keine asphaltierte Autobahn. Es gewährt einem keine wirtschaftlichen oder sonstigen Garantien.

Die griechische Schriftstellerin Amanda Michalopoulou

© Wikipedia

Wenn ich mittags auf den Vorplatz des Krankenhauses kam, ging das Leben weiter. Gegenüber des Haupteingangs wirkte die Schlange vor dem Geldautomaten der Alpha Bank wie ein Maskentanz: Ärzte in weißen Kitteln, Krankenschwestern und eine Graeco-Amerikanerin mit ihrem ununterbrochenen Redeschwall, über den ich zu gern einen „Monolog am Bankautomaten“ schreiben würde: „Warum stellen die denn nicht wenigstens einen Schirm für uns auf?" Wir kriegen beim Anstehen noch einen Sonnenstich. Meine Eltern in Kalifornien haben gesagt, Kind, hol dir dein gesamtes Geld aus der Bank. Und zum Glück habe ich auf sie gehört. Aber mein Schwiegervater hat es immer noch. Ich sag ihm, was machst du denn jetzt, wo sie’s dir wegnehmen? Kauf uns wenigstens ein Wohnzimmer, kauf uns mit der Kreditkarte die paar Möbel, die wir brauchen. Aber er tut, als ob er nichts hört.

Übernimmt das griechische Heer die Produktion von Medikamenten?

Damit kein falscher Eindruck entsteht, muss ich noch ergänzen, dass es sich bei dem Krankenhaus um eine Privatklinik handelt, und ich insofern keine dramatischen Szenen mit Kranken auf Liegen mit Infusionen und Ernährungsschläuchen erlebt habe. Das öffentliche Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps, die staatlichen Ausgaben im Gesundheitssektor sind gemäß den Forderungen des Rettungspakets von 2010 gekürzt worden, und der Mangel an Arzneimitteln hat in den vergangenen Tagen zu großen nationalen Worten geführt: Eine Abgeordnete der Unabhängigen Griechen, Stavroula Xoulidou, hat versichert, das griechische Heer könne während der nächsten zehn Monate die lebensnotwendigen Arzneimittel herstellen. Eine gefährliche Romantik der Volksrettung.

Nein, in unserem Krankenhaus gab es Fernsehen, Kekse und Kaffee. Bei uns gab es das Gefühl von Respekt und Fürsorge, das man so nötig hat, wenn man krank wird. Wir hatten auch vorbildliche Ärzte. Erlauben Sie mir, den meinen zu erwähnen. Als endgültig klar war, dass ich ihn nicht mit Bargeld bezahlen konnte, schickte er mich nach Hause und sagte, ich solle mir nur keine Sorgen machen, wir würden das Problem lösen, sobald die Banken wieder aufmachen. Ich hatte das Bedürfnis, ihn zu fragen, ob er nicht Möbel oder etwas anderes brauche, was ich mit einer Kreditkarte zahlen könnte, aber ich beherrschte mich. Ich hoffe, das Gefühl von Geduld und Gleichmut, das ich im letzten Monat erlernt habe, bleibt mir noch eine Weile erhalten.

Totenwache für Griechenland

In dieser Zeit trauerten meine gesunden Freunde über den Zusammenbruch Griechenlands. Auch beim Gipfeltreffen am Sonntagabend wirkte der Verhandlungsmarathon zwischen Griechenland und den Gläubigern erst wie eine Nacht auf der Intensivstation und danach wie eine Totenwache (ein alter griechischer Brauch in der Provinz, den Leichnam die ganze Nacht über zu beweinen). Schließlich entstand durch die uns allen bekannte Vereinbarung der Eindruck, ein Land sei von den Toten auferstanden.

Aus dem Griechischen von Birgit Hildebrand. Amanda Michalopoulou, geb. 1966, lebt als Schriftstellerin in Athen und auf den Inseln. Sie schrieb sieben Romane, u. a. „Oktopusgarten“, Erzählungen und Kinderbücher. Diesen Sommer drucken wir in loser Folge ihre Berichte aus Griechenland.

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