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Kultur: Mit der Spurensuche "Wann wird der Gotthardtunnel fertig ?" wird das Nietzsche-Jahr eröffnet

Der Leiter des Nietzsche-Kollegs Weimar hat "die Sachen" noch nie gesehen. Auch nicht Nietzsches Sofa?

Der Leiter des Nietzsche-Kollegs Weimar hat "die Sachen" noch nie gesehen. Auch nicht Nietzsches Sofa? Und nicht die Schreibmaschine? Nicht seine Löffel? "Wozu? Nietzsche ist Text!" Also sprach der Leiter des Nietzsche-Kollegs.

Und nun diese Ausstellung. "Wann wird der Gotthardtunnel fertig? Friedrich Nietzsche. Leben und Werk". Vor einer Woche ging Rüdiger Schmidt, der Kollegsleiter, ins Weimar Schloss, um den künftigen Führern durch Nietzsches musealisiertes Leben etwas zu erzählen. Er begann: "Sie sollen über einen Philosophen sprechen. Sie werden es nicht können!" Die anwesenden Stadtführer, Hausfrauen, Handwerker und Studenten betrachteten überrascht den Philosophen. Das hatte ihnen noch keiner gesagt. Und dass sie alles selbst lesen müssten, auch nicht. Aber gibt es denn nicht eine Art - Leitfaden?, fragten scheu die Blicke unter der schweren Gold-Kastendecke des Weimarer Schlosses. Rüdiger Schmidt stützte beide Hände auf den Tisch: Natürlich! Den gäbe es. Lesen Sie den Aphorismus "Das größte Schwergewicht" aus "Der fröhlichen Wissenschaft"! Ein Schlüsseltext. Halt! Es gibt gar keinen Schlüsseltext bei Nietzsche. Und nicht mal eine Regel, sagt begeistert der Kollegsleiter. Unsicheres Lachen im Saal.

Rüdiger Schmidt hat recht. Wenn wir aus der Nietzsche-Ausstellung kommen, sollten wir hinterher wissen: Nietzsche haben wir nicht gesehen. Nur seine Kochbücher. Und den Krankenstuhl der letzten Jahre. Alles, bloß nicht ihn. Rüdiger Safranski aber, der Berliner Philosoph, müsste täglich im Foyer stehen und seinen wunderbaren Nietzsche-Vortrag vom vergangenen Sonnabend halten. Vortrag und Ausstellung gehören zusammen. Der Geist und das, sollen wir sagen - Happening?

Dagmar Schipanski, thüringische Kultusministerin und Beinahe-Bundespräsidentin, schaut unverwandt auf den kranken Nietzsche im Lehnstuhl an der Wand gegenüber. Gleich muss sie die Ausstellung eröffnen. Der Nietzsche dort trägt den Kopf von Donald Duck. Wird die Festkörperphysikerin bei dem Namen Nietzsche künftig an Enten denken? Goethe wäre so etwas nicht passiert. Und als Dagmar Schipanski dann die Ente vergisst, um zu sagen, dass Weimar mit Nietzsche jetzt "fast nahtlos an das Jubeljahr 1999 anschließt und den Bogen ins Jahr 2000 schlägt", fliegt hinter ihr Batman mit Umhang und einem schwarzen "N" auf der Brust. Noch ein Nietzsche! "Cocktailparty" nannten die Ausstellungsmacher, was im Foyer des Schiller-Museums zu sehen ist. Auf einem Monitor geht der Originalton des letzten grossen Nietzsche-Hassers der DDR, Wolfgang Harich, nahtlos über in das Nietzsche-Examen aus "Ein Fisch namens Wanda". Seit "Wanda" weiß jeder Aquarienbesitzer, welches Risiko darin liegt, "Jenseits von Gut und Böse" nicht zu kennen. Aber auch das "Spiegel"-Übermenschen-Gentechnik-Titelbild ist da.

Meint Dagmar Schipanski es etwa so mit Nietzsche und der Gegenwart? Der "Übermensch" der Gentechniker als Brücke zu uns? Die "SZ" schrieb gerade eine Kolumne zu dieser Ausstellung, mit der das "Nietzsche-Jahr" nun anfängt: "Die Geburt des Übermenschen aus dem Geiste der Gentechnik, die wir, ob wir wollen oder nicht, nun schärfer ins Auge zu fassen haben, ist, aus christlicher Sicht, eine Tragödie und mutet im heiligen Nietzsche-Jahr wie ein schlechter Witz an." Es ist schon seltsam, bis eben war Nietzsche der geistige Ahne des Faschismus. Nun wird er wohl die gentechnische Selbstmanipulation des Menschen zu verantworten haben. Doch diese menschliche, allzumenschliche Ausstellung lässt von solchem geistigen Sprengstoff nichts ahnen. Für Nietzsche, schreibt die "SZ" sei das Christentum "der eine große Schandfleck der Menschheit" gewesen, "weil es Rücksicht nahm auf die Schwachen und so das Leben an seiner Entfaltung hinderte". Die "SZ" weiß auch, woran wir künftig den "Übermenschen" erkennen werden. An seinem Nihilismus, dem anderen Erbteil Nietzsches.

Stephan Oettermann, der Ausstellungskurator, hat sicher noch nicht "SZ" gelesen. Er lädt jetzt die Ehrengäste zu einer ersten Führung. Mit aufgeräumtem Understatement geht er vorbei an dem riesigen, halbstürzenden Kruzifix aus Schulpforta bei Naumburg. Das war Nietzsches Schule, dieses Kreuz wird er gekannt haben. Aber Oettermann ist schon bei dem Schnittmusterbogen für Nietzsches Sommerhose, den seine Mutter aus der "Vossischen Zeitung" schnitt. Da war ihr Sohn sechs. Es gibt viele solche Sachen hier. Ein Klavier als Zeuge für jene Szene, die Thomas Mann später im "Doktor Faustus" beschrieb. Nietzsches unfreiwilligen Bordellbesuch. Und er konnte im unverhofften Angesicht der Töchter der Nacht die Fassung nur wahren, indem er geradewegs auf das bordelleigene Klavier zuging, ein paar Takte anschlug und das Haus fluchtartig verließ. Die Festkörperphysikerin muss sehr lachen. Oettermann erklärt ihr auch, dass es in Nietzsches Wohnzimmer fast aussah wie im Bordell (das rote Sofa!), nur ohne das dazugehörige Personal. Eine Frau sagt mit leisem Unbehagen zu ihrer Freundin: Irgendwie ist das alles so in die Niederungen geholt! - Sie blickt gerade auf den Gips-Pferdekopf, der über den Aufsteller "Der Naumburger Frauenhaushalt" zu uns herüberschaut. Aber ihre Freundin findet das gut. Endlich mal weg von diesen schrecklichen Übermenschen! - Da stehen sie schon vor einem zweiten, diesmal ziemlich echten Pferdekopf. Nietzsche konnte auch reiten.

Dagmar Schipanski darf nun wie jeder Ausstellungsbesucher durch alle Brillen(stärken) schauen, die der extrem kurzsichtige Philosoph im Laufe seines Lebens trug. "Hier sehen Sie, was Nietzsche vom Engadin gesehen hat, nämlich gar nichts!" Wir betrachten Nietzsches Petroleumkocher, den Ratgeber "Wie ernährt man sich gut und billig?" sowie ein "Diätetisches Koch-Buch mit besonderer Rücksicht auf den Tisch für Magenkranke", als Oettermann von Wagners Rat berichtet, der Philosoph solle doch heiraten, das sei "viel hygienischer". Nietzsche bestand auf einer klugen Frau mit ungemein viel Geld. Im größten Raum stehen lauter geöffnete Reisekoffer. In den Koffern ist das philosophische Hauptwerk, von der "Morgenröthe" bis zum "Ecce homo", entstanden unterwegs, immer irgendwo zwischen Sils Maria, Rapallo und Turin. Oben dann die Bilder der Krankheit, van de Veldes Entwürfe zu einer Nietzsche-Gedenkstätte (mit Stadion!), Georg Kolbes Zarathustra-Skulptur (1931) auf Fotos, Hitler vor der Nietzsche-Büste, ein Mussolini-Telegramm an Nietzsches Schwester... Und hier die drei Totenmasken!, ruft ein Ausstellungsführer, da seien noch Nietzsches Barthaare drin. Hoffentlich komme keiner auf die Idee, die DNA zu klonen! - Die Umstehenden lachen mit leicht vibrierendem Entsetzen. Haben sie denn vorhin Rüdiger Safranskis Vortrag nicht gehört?

"Um sein Leben denken", hat er ihn genannt. Denken statt zu leben, Leben nur ertragen als gedachtes. Safranski kennt einen ganz anderen Nietzsche als die "SZ". Er weiß von seinem beinahe osmotischen Mitleidenkönnen, seiner Unfähigkeit zu Härte. "Nur um es bei sich aushalten zu können, hat er einer ganzen Kultur den Prozess machen müssen." Eben sind wir dabei, auf höchstem zivilisatorischen Niveau den Rückweg ins Tierreich anzutreten, sagt Safranski. Es sei noch immer das Nietzsche-Problem: Wie können wir verhindern, dass wir nach dem Absterben der Religion nicht zu Bestien der Banalität werden? Nietzsche hat den "Nihilismus" nicht beschworen, er hat ihn beschrieben.

Und der "Wille zur Macht", heißt das nicht auch, Macht über sich selbst gewinnen? Genau wie der "Übermensch" zuerst den sich selbst schaffenden, sich selbst übernehmenden Menschen in einer nicht mehr substanziell zu denkenden Kultur meint.

Im Mai beginnt das "Nietzsche-Kolleg" seine Vorlesungen. Der italienische Philosoph Gianni Vattimo spricht fünf Mal über "Nietzsche und die Philosophie der Zukunft". Auf den Nietzsche-Kaffeetassen im Nietzsche-Shop steht: "Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit!"Weimar, Schiller-Museum, bis 31. Dezember. Katalog "Friedrich Nietzsche. Chronik in Bildern und Texten", 864 Seiten, 48 Mark.

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