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Kultur: Mit Feueratem

Christian Thielemann und die Wiener Philharmoniker eröffnen ihren Beethoven-Zyklus

Die langsame Einleitung zu Beethovens vierter Sinfonie, so wie Christian Thielemann und die Wiener Philharmoniker sie sehen, wirkt wie das weiße Blatt Papier auf einem Schriftstellerschreibtisch: neutral, aber einladend. Dann der Einfall, der Dichter holt tief Luft – und schreibt sein Werk in einem Zug nieder. Emphatisch, geistvoll, bereits in der ersten Fassung perfekt. Aber eben auch ohne Überraschung. Um nicht zu sagen: In seiner Makellosigkeit fast etwas langweilig.

Es ist der heiß ersehnte Eröffnungsabend des Wiener Gastspiels in der Berliner Philharmonie: Ein bekennend konservativer Maestro und das traditionsbewussteste Orchester der Welt werden an vier Abenden die sinfonische Welt des Klassiktitanen Ludwig van durchmessen. Los ging es mit der Vierten und Fünften, tags darauf folgen Nr. 7. und 8., am Wochenende dann die ersten drei Sinfonien am Sonnabend und die 6. und 9. am Sonntagmorgen. Der Saal ist bis auf den allerletzten Podiumsplatz gefüllt, die Stimmung hochgespannt.

Doch Thielemann, der kluge Fuchs, wählt den Weg der Deeskalation, dimmt die übermächtige Erwartung des Publikums, indem er Opus 60 in noblem Klassizismus nachmodelliert. Die Rolle des Rhythmus scheint ihn überhaupt nicht zu interessieren, der von Beethoven so intensiv beschäftigte Paukist ist von seinem Stammplatz – thronend in der Mitte – an den rechten Bühnenrand gerückt. Ländliche Idylle im Adagio, den dritten Satz kennt man lebendiger, allein im Finale werden ein paar Kontraste hervorgehoben.

Doch Thielemanns unspektakuläre, geradezu biedermeierliche Lesart hat einen tieferen dramaturgischen Sinn. Nach der Pause nämlich ist Showtime: Eilig erklimmt der Maestro das Pult, verbeugt sich flüchtig – und gibt dann aus der Drehung zum Orchester sofort den Startschuss zu einer Fünften, die mit Feueratem von der Macht des Schicksals erzählt. Und vom Konstruktionsgenie Beethoven, der ungeheuerliche Dinge anstellen kann, ohne die Form sprengen zu müssen. Jetzt ist die emotionale Dringlichkeit da, jetzt pulsiert heißes Blut in den Adern, jetzt klingen die feinen Wiener energiegeladen, ja ruppig.

Auf den stürmischen Kopfsatz folgt ein Andante mit gedanklicher Tiefe und markantem klanglichem Relief, das sich schließlich in stolzer, freier Festlichkeit verströmt. Bis hin zu den im Fortissimo gemeißelten Schlussakkorden entfaltet sich alles hinreißend natürlich, als könne es gar nicht anders sein. So lieben die Leute ihren Thielemann. Sie feiern ihn, er feiert das Orchester, als Zugabe gibt es die „Egmont“-Ouvertüre, grell gezeichnet. Welche Vorfreude auf die weiteren Begegnungen mit Beethoven, dem Vielgesichtigen! Frederik Hanssen

Alle Konzerte sind ausverkauft. Eine Bilanz erscheint am Montag, den 6. 12.

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