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Zeit für Kontemplation. Strand in Bournemouth, Großbritannien.

© Andrew Matthews/dpa

Mit Literatur die Natur genießen: Zwei tierisch schöne Bücher für den Spätsommer

Joachim Sartorius schreibt ein Porträt der Eidechse. Und Sy Montgomerys lädt zum Date mit einem Oktopus ein. Die Kolumne Fundstücke.

Peter von Becker schreibt an dieser Stelle regelmäßig über literarische Trouvaillen. Nächste Woche:  Gregor Dotzauer über Zeitschriften und Websites.

Jahrhunderttausende schauen dich an. Das ist das Empfinden, wenn wir einer Echse ins Auge blicken. In jenen schuppig-schrundigen, vom Grundgrün oder Grau in oft exotische Farben changierenden Kriechtieren schlummern Herkünfte, die älter sind als die Geschichte unserer eigenen Spezies. Dinosaurier kommen einem als ihre Vorfahren in den Sinn. Oder die in vielen Mythen als fantastische Höllenwesen, Jungfrauenräuber, Lindwürmer fortlebenden Drachen.

An diesen Hintergrund erinnert natürlich auch Joachim Sartorius in seinem Büchlein „Eidechsen. Ein Porträt“, erschienen bei Matthes & Seitz (136 Seiten, 20 Euro). Der kleine hellgrüne Band aus der Reihe „Naturkunden“ gehört zum Schönsten des Jahres.

Anregend und tröstlich vor allem in diesem nun bald endenden Sommer, der das Reisen in die klassischen Eidechsenländer am Mittelmeer oder in Mittelamerika oft nur in der Sehnsucht ermöglicht hat.

Sartorius, der vielgewandte Essayist und Poet mit Wohnsitzen in Berlin und Syrakus, erkennt in den Eidechsen, Geckos, Leguanen die wahren Sonnen- und Südentiere. Die mal scheuen, mal neugierigen Mauerspäher, die schnellen Weghuscher oder Ausharrer mit dem gelegentlich steinhart starren Blick des Basilisken.

Im leichthändig dargebotenen, oft überraschenden Streifzug durch die Natur- und Kulturgeschichte erfahren wir etwa von der frühen Paläontologie, die mit ihren Knochenfunden und Fossilien ab dem 18. Jahrhundert Fantasie und Wissensdurst weckte.

Eidechsen eignen sich nicht als lebendes Spielzeug

So schlägt Sartorius einen Bogen von Thomas Hawkins’ 1840 veröffentlichtem „Buch der großen Seedrachen, Ichthyosauren und Plesiosauri“ zu Arthur Conan Doyles Science- Fiction-Bestseller „The Lost World“ von 1912.

Oder vom Kirchenvater Augustinus über „Brehms Tierleben“ zu motivisch einschlägigen Gedichten von Gertrud Kolmar, Ingeborg Bachmann oder Jan Wagners „Grottenolm“ („kaum schwerer als ein brief / und leichter als ein schluck wasser / weiß er nichts von unserer welt / oder weiß er alles?“).

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Apropos Olm und Ingeborg Bachmanns Salaman der: Aus den gut 2700 Echsenarten wählt der Autor auch ein paar schuppenfreie, mehr lurchige und nördliche Wahlverwandte aus. Das erlaubt die dichterische Freiheit.

Außerdem lernen wir aus einer schönen, traurigen Erfahrung der Sartorius-Kinder, dass Eidechsen, anders als Schildkröten, sich offenbar nicht so recht als Haustiere und lebendes Spielzeug eignen. Hübsch auch das äthiopische Sprichwort: „Je kleiner die Eidechse, umso größer ist ihre Hoffnung, ein Krokodil zu werden.“

Ein Sprung in die Weltmeere

Zauberhaftest sind zudem die exzellenten Farbillustrationen. Ob Uccellos berühmter „Hl. Georg mit dem Drachen“ oder seltene naturkundliche Drucke, ob das Röntgenbild einer Eidechse von 1896 (!), ein Mosaik Jean Cocteaus oder das 2017 entstandene Rätselbild mit rotem Gecko von Max Neumann – hier wird das Panorama der Kriech- und Krabbeltiere ganz beiläufig auch noch zu einem Stück origineller Kunstgeschichte.

Noch ein spätsommerlicher Sprung in die Weltmeere. Zu den Tintenfischen. Im Gegensatz zu Krokoleder und Schildkrötensuppe sind sie bisher nicht tabu. Aber ich muss auch gestehen, dass ich Pulpo, Calamari, Oktopus leider gerne, aber nur noch mit schlechtem Gewissen esse.

Wer einen Oktopus in einem Aquarium jemals über längere Zeit mit Aufmerksamkeit beobachtet hat, erkennt schon, dass die Krake mit ihren Knopfaugen zurückschaut. Und tatsächlich steckt in den achtarmigen Mollusken eine erstaunliche Intelligenz, haptische Geschicklichkeit und auch Kommunikationsfähigkeit beim Betasten und Berühren von Menschen.

Dazu sollte man unbedingt Sy Montgomerys „Rendezvous mit einem Oktopus“ lesen (Aus dem Amerikanischen von Heide Sommer. Mare Verlag, Hamburg 2017, 336 Seiten, 28 Euro). Was die Naturforscherin im jahrelangen Umgang mit den schlauen, aus emotionalen oder strategischen Gründen sogar ihre Farbe wechselnden Tieren entdeckt hat, verschlägt einem oft den Atem. Denn dieses „Rendezvous“ ist oft rührender als ein Liebesroman und in vielen verblüffenden Details so spannend wie ein Thriller.

Peter von Becker über zwei tierisch schöne Spätsommerbücher

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