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Kultur: Mit Miriam in die bessere Welt

Wohin mit dem Stress, dem Burn-out-Syndrom und dem Meetingwahn? Eine Entschleunigungs-Geschichte von Moritz Rinke

Der Auftrag war ein schöner, ein zeitgemäßer. Immer mehr Menschen versuchen in dieser Welt, Ruhe zu finden. Nicht zu Hause, nicht in Wäldern oder auf Inseln, sondern in Seminaren und bestimmten, sonderbaren Techniken. Ich entschied mich für das ZeitlupenSeminar in Oberbayern, zur Beseitigung von so genannten Burn-out-Syndromen und Stress. Ich wusste, dass ich die nächsten fünf Seminartage lernen sollte, in der Zeitlupe zu leben, ein Wort pro Atemzug zu sprechen, und dass jeder Toilettengang in Lenzwald/Oberbayern mit zwanzig Minuten berechnet werden würde, auch wenn man nur Pipi – also, umgerechnet hieß das ungefähr jeden Tag insgesamt eineinhalb Stunden nur für so etwas, verblüffende Vorstellung.

Irgendwann im Sommer sollte ich dann noch nach Hersbruck/Frankenalb fahren, der Siegerstadt in der „SlowCity-Bewegung“, um dort einen Workshop mit dem Bürgermeister sowie den Erfindern von „Ein Dorf tut nichts“ zu machen, ein Projekt, das in Oberösterreich verwirklicht wurde. Es ging also auch um eine Annäherung an das Thema Zeit, Entschleunigung, Müßiggang.

Der ICE in Richtung Oberbayern war gut in Fahrt. Ich habe die Angewohnheit, in Zügen ab und an durch die 1.Klasse zu laufen, hier und da Platz zu nehmen, um mich dann abzureagieren. Andere gehen zum Boxen oder zum Eishockey, ich gehe in die 1.Klasse/Bahncomfort und ziehe mir die telefonierenden und in ihre Laptops hackenden Menschen rein. In der Regel bringt mich ein Telefonat zur Weißglut, in dem mir ein Typ zwanzig mal das Wort „Meeting“ ins Ohr brüllt oder „Schicken Sie mir das Feedback auf die Mailbox!“ – jetzt aber saß ich da in aller Seelenruhe mit der Aussicht auf Lenzwald, mit meinen Seminarunterlagen und der Sekundärliteratur von Epikur bis „Wenn die Seele S.O.S. funkt“.

In dem Anleitungsbuch von Wolfgang Schneider, der „Enzyklopädie der Faulheit“, heißt es, dass die zu adelnde Faulheit der einzige Weg sei, um eine Arbeitsgesellschaft zu retten, deren einzige Tätigkeit, auf die sie sich versteht, die dumm-stolze Verherrlichung der Arbeit ist. Gott hat die Zeit geschaffen, von der Eile hat er nichts gesagt, heißt es bei den Finnen, oder bei den Südamerikanern: Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens. Doch wie erklärt man es der rastlosen Welt, dem Bundeskanzler und sich selbst? Vielleicht indem man begönne, Denken, Stillehalten und den Müßiggang der Weisen auch Arbeit zu nennen? Revolutionärer Gedanke!

In Braunschweig lief ein Mann am Bahnsteig auf unseren Zug zu, er schrie: „Ich muss da rein!“, aber der Schaffner rief: „Wir fahren in fünf Sekunden!“, ließ die Türen schließen, der Mann lief weiter, sprang, flog herein, aber sein Koffer blieb in der Tür stecken. Der Zug fuhr, und ein riesiger Metallkoffer eingeklemmt in der Tür. Der Schaffner schrie den Mann an, der schrie zurück, das seien keine fünf Sekunden gewesen, er sei Anwalt, im Koffer seien wichtige Prozessakten, Ihren Namen bitte! Was für ein Bild. Da sitzt man mit „Wenn die Seele S.O.S. funkt“, mit Senecas „Die Kürze des Lebens“ und finnischen Weisheiten, und dann stehen schreiende Menschen vor einer Tür, in der wegen fünf Sekunden ein Koffer mit Prozessakten klemmt.

Aufgrund der nicht verschlossenen Tür setzte ein Notsignal ein, ein Dauerton, wie früher der Dauerton beim Testbild im Dritten, als es noch Sendepausen gab. Ich verließ den Ort, lief ein paar Waggons an den in den Korridor ragenden Zeitungen, Schlagzeilen und Bildern unserer Tage vorbei: Folter. Rumsfeld. Die hiesige Mehrwertsteuer, Otto Schily. „Die Stimmungen im Land ziehen dahin wie die Wolkenschatten über unsere Weide, Befindlichkeiten sondieren, das ist, als wollte einer Badeschaum an die Wand nageln“, lese ich im mitgenommenen neuen Buch von Botho Strauß. Klar, denke ich, auch den Stimmungen in unserem Land fehlt die Zeitlupe, wenn wir mit unseren Stimmungen und Meinungsbildungen so zur Toilette gingen wie in Lenzwald, dann wäre das irgendwie besser, denn was spült oder weht schon morgen die Folterbilder wieder weg?

Wegen des in der Tür steckenden Koffers mit den Prozessakten ist der hohe, fürchterliche Dauersignalton bis kurz vor Hildesheim nicht zu unterbinden. Kinder schreien, eine Frau mit einem Reisekäfig mit Katze rennt durch den Waggon, im Speisewagen wirft ein älterer Herr vorwurfsvoll sein Hörgerät neben die Königsberger Klopse nach dem Rezept von Alfred Biolek. Ich stecke mir meine Zeigefinger in die Ohren und lese „Der flexible Mensch“ von Richard Sennett, auch mitgenommen. Der Schriftsteller Burkhard Spinnen („Die kalte Ente“) hat mir neulich in Bonn gesagt, er schaffe pro Zugfahrt immer einen Roman, manchmal sogar noch eine Erzählung dazu, für ihn habe jede Bahnreise, die einen im Prinzip aus dem Kontext reiße, dennoch damit etwas Rundes, Ganzheitliches.

Na gut, bis Kassel schaff ich auch „Der flexible Mensch“ von Sennett, vielleicht bis Fulda auch noch das ganze Anleitungsbuch von Schneider. „Wie kann ein Mensch in einer Gesellschaft, die aus Episoden und Fragmenten besteht, seine Identität und Lebensgeschichte zu einer Erzählung bündeln?“ Sehr wichtige Frage. Ich bin froh, dass die Prozessakten von diesem Anwalt in der Tür klemmten und nicht mein Koffer mit der tollen Zeitlupenliteratur, denn Sennett hat so Recht wie Strauß mit seinen Wolkenschatten, die über die Weide eilen: Die Stimmungen und Meinungsbildungen rauschen genauso wie unsere Terminkalender von einem Kriegsort, von einem Reformgeschrei zum nächsten, es sammelt und bündelt aber nicht das Gewesene, es zerhackt es und macht es vergessen.

Ja, seit ich Terminkalender führe und mein Leben nach der Agenda lebe, ist alles zerhackt und ohne Nachhall oder wie Badeschaum, es müsste die antike Ganzheit wieder her, zumindest die Uckermark wie bei Strauß, ich begreife dies alles kurz vor Hildesheim und gehe betont langsam zum ICE-WC. 15 Minuten besetzt, zwanzig, ich denke, das ist doch hier noch nicht Lenzwald, Mensch; ich klopfe, und die Frau mit dem Reisekäfig kommt heraus, schweißgebadet. Ich frage, „Entschuldigen Sie, was machen Sie denn solange mit der Katze?“, doch die Frau rennt einfach weg.

Der Zug steht mittlerweile irgendwo bewegungslos in den Kasseler Bergen, ausgefallen wegen technischer Störung, wenn man nachfragt, wegen einer defekten Tür und resultierender Gesamtblockierung. Der verbeulte Koffer des Anwalts steht dem Vernehmen nach mittlerweile bei der Bahnhofsdirektion in Göttingen. Im Speisewagen erzählt der Ober, dass die junge Katze aufgrund des Signaltons von Braunschweig bis kurz vor Hildesheim zu sterben drohte, dass die Frau mit ihr auf das WC flüchtete, in der Not die arme Katze in die Toilette setzte, schalldämpfend den Deckel drüber, doch jetzt ist die Katze weg.

Der Anwalt, das erzählt er immer noch aufgebracht im Bahncomfort-Bereich, sei auf dem Weg zu einem Industrieprozess, er vertrete eine Holding, die sich einen Gebäudekomplex in Würzburg habe bauen lassen, aber an allen Rahmen und Fenstern seien jetzt Fettränder, weil das Silikon sich ausgebreitet hätte. Na, das ist ja ungeheuerlich! Und wegen dieser Scheiß-Fettränder in Würzburg fällt eine Katze durch den Zug auf die Gleise?! Wegen fünf fehlender Sekunden eines Anwalts stehen hier jetzt ungefähr 2000 Menschen in den Kasseler Bergen und sterben Katzen in Toiletten? In Lenzwald hätte ich in fünf Sekunden noch nicht mal ein Wort gesprochen, geschweige denn fürs Pipi die Hose aufgemacht!

Eigentlich wollte ich über Muße schreiben, Kontemplation und Zeitlupe betreiben, aber jetzt bin ich schon wieder mitten drin in den über uns hereinbrechenden, globalen Tücken. Muss im Speisewagen ein trauriger, alter Mann sitzen, das Hörgerät neben kalten Klopsen von Biolek, nur weil sich in Würzburg Silikon ausgebreitet hat? Erinnert dieser traurige Mann nicht an einen dieser Wale, die jetzt ständig an den Küsten stranden, weil sie die Fremdsignale unter Wasser in den Wahnsinn treiben? Warum fragt man eine weinende Frau, ob sie vielleicht aus Versehen gespült habe oder ob die Katze wirklich im WC gewesen sei? Selbst bei unseren saugenden ICE-Spülungen, heißt es, ist das Loch immer noch zu klein für eine Katze, was sagen Sie dazu? Mein Gott, wieso muss ich mich mit saugenden ICE-Spülungen beschäftigen, ich will mein Leben zu einer Erzählung bündeln, in Zeitlupe! Und wieso müssen jetzt in der 1. Klasse circa 300 Menschen ihre Meetings gleichzeitig mobil umlegen, was ist das für ein fürchterlicher Chor dieser Welt?

Ich war also zurückgegangen in die 1. Klasse und zurückgefallen in meine alten Feindbilder und mein bewährtes Aggressionsmodell. Kurz überlege ich noch, ob ich jetzt einfach in diesen Chor hineinbrülle: „Geschieht euch recht, wegen Silikon in Würzburg werdet ihr eure Meetings verpassen, macht doch jetzt mal was anderes, lest wie Burkhard Spinnen einen Roman und eine Erzählung und gebt eurem Leben etwas Ganzheitliches. Ich freu mich schon, wenn ihr alle arbeitslos seid! Kennt ihr DD?!“ DD, das hatte ich gelesen, ist ein Begriff aus der Schule der Muße und meint: „Denken dauert.“ Man erreicht Großes, wenn man DD anwendet, ich dachte, DD, das müsste den Mobilmenschen gefallen.

Meinen Anschlusszug nach Mühldorf am Inn und weiter nach Lenzwald konnte ich mittlerweile knicken, ich wollte ja nicht in Zeitlupe nach Lenzwald, so ein Irrsinn. Vorne sah man Bedienstete der Bahn in der Dämmerung auf den Gleisen herumklettern, den Mobilmenschen gingen allmählich die Akkus und Feedbacks aus, die Toiletten waren verstopft wie neulich beim vierstündigen ICE-Ausfall Berlin – Köln, einige Mitreisende verlangten auszusteigen, Kinder pinkelten verstohlen in Kaffeetassen, neben mir kratzte sich ein Mann permanent am Sack, eine Frau begann ein Gespräch über Reinkarnation auf Schwäbisch, ein älterer Herr zerriss fein säuberlich alles, was er in die Finger bekam, ein fremdes Kind verknotete unter dem Sitz meine Schnürsenkel.

Ich zog mir meinen Walkman auf, die Mütze in die Stirn mit Sonnenbrille, baute die Bücher wie eine Burg um mich und dachte an den traurigen Wal im Speisewagen. Wäre er geblieben, wo er war, hätte er seine Würde wahren können. Welch ein krankes System, wegen des Treibens und des Wahnsinns anderer sein Gehör zu verlieren und entblößt vor uns zu liegen. Eine Katze, durch so eine bekloppte ICE-Reise derart aus dem Kontext gerissen, kann ihr Leben, wie es Sennett beschreibt, nie als Erzählung bündeln, das kann nur ich für sie tun und tue es, sie hieß Miriam.

Um wirklich bei sich zu sein und mit sich selbst halbwegs identisch zu leben, dafür ist unsere Welt zu kompliziert und in Sekundenschnelle zu vernetzt auf das Fürchterlichste und Dämlichste. Egal, ob Katzen, Wale, alte Männer mit Hörgeräten, Burkhard Spinnen oder Strauß in der Uckermark und Reporter mit der Sehnsucht nach Zeitlupe: Wenn man die Ruhe nicht in sich findet – ist es dann zwecklos, sie woanders zu suchen?

In Lenzwald in Oberbayern bin ich nie angekommen.

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