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Kultur: Moral als Waffe

Essays über die Verbrechen der USA: Arundhati Roy geht mit dem Westen ins Gericht

Die Essays von Arundhati Roy stecken voller Wut und Trauer. Kriege, Genozide und Terrorismus sind ihr Thema. Dabei betrachtet die indische Schriftstellerin das nicht enden wollende Töten in der Welt durch eine Brille, die sich kaum ein europäischer oder amerikanischer Autor aufzusetzen trauen dürfte – zu politisch inkorrekt wirken nach westlichem Verständnis viele ihrer Blicke. Roy scheint eine große Bewunderung für Menschen in sich zu tragen, die den Mut haben, nicht nur das Unaussprechliche auszusprechen, sondern vor allem das Undenkbare zu denken. Ebendies hat auch die in Neu-Delhi lebenden Autorin zu ihrem Markenzeichen gemacht – mit großem Erfolg bei ihrem weltweiten Publikum.

Beispiel eins: die Behandlung des Themas Völkermord. Roy stellt ihn als einen „alten Brauch der Menschen“ dar. Er habe eine außergewöhnliche Rolle beim Vormarsch der Zivilisation gespielt. Zu den ersten belegten Genoziden zählt sie die Zerstörung Karthagos gegen Ende des Dritten Punischen Krieges. Dabei wendet sie selbst ein, dass das Wort Genozid erst 1943 von Raphael Lemkin geprägt und 1948, nach dem Holocaust, von den Vereinten Nationen übernommen wurde. Da Artikel 2 der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes die Verfolgung politischer Dissidenten, realer oder eingebildeter „Volksfeinde“ nicht als Genozid definiert, hält Roy die Definition von Frank Chalk und Kurt Jonassohn für geeigneter. Für die beiden amerikanischen Historiker und Soziologen ist Völkermord „eine Form einseitigen Massenmords, bei dem ein Staat oder eine andere Autorität beabsichtigt, eine Gruppe zu zerstören, wobei die Täter die Gruppe und ihre Mitgliedschaft definieren“. Entsprechend fallen nach Roy auch die Millionen Toten und die Verbrechen von Suharto in Indonesien, Pol Pot in Kambodscha, Stalin in der Sowjetunion und Mao in China unter Völkermord.

Eine akademische Diskussion über Kriterien von Genoziddefinitionen ist aber nicht das eigentliche Interesse von Roy. Ihr Thema ist die Doppelmoral im Umgang mit Völkermorden – nicht zuletzt im Westen. So weist sie darauf hin, dass im Europa des 19. Jahrhunderts neue Formen von Demokratie und Bürgerrechten entstanden, während in den europäischen Kolonien gleichzeitig Millionen Einheimische ausgerottet wurden. Von dort schlägt Roy einen direkten Bogen zur Gegenwart: Warum werde über das millionenfache Sterben im Kongo praktisch nicht berichtet? Und war der Tod von einer Million Irakern infolge der Sanktionen vor dem Einmarsch amerikanischer Truppen 2003 Völkermord – so nannte es der Koordinator der UN-Hilfe Denis Halliday – oder war er die Sache „wert“, wie Madeleine Albright als amerikanische UN-Botschafterin sagte? Für Roy hängt die Beantwortung dieser Fragen davon ab, wer die Regeln festlegt: „Bill Clinton? Oder eine irakische Mutter, die ihr Kind verloren hat?“

Damit ist Indiens Starautorin bei einem weiteren beliebten Thema auf politischen Podien angelangt: der Schuld der USA. Sie sind für Roy nicht nur das reichste und mächtigste Land der Erde, sondern stehen auch „an erster Stelle“, wenn es darum gehe, Völkermorde zu leugnen: „Sie feiern immer noch den Columbus Day, den Tag, an dem Christoph Kolumbus in Amerika landete und der einen Holocaust einleitete, dem Millionen Indianer, fast 90 Prozent der eingeborenen Bevölkerung, zum Opfer fielen.“

Beispiel zwei: der „Krieg gegen den Terror“. Auch ihn scheint Roy mit einer weitgehend vorgefassten Meinung zu kommentieren: „Wenn die Terroranschläge vom 11. September die USA dazu verleiten sollten, ihr wahres Gesicht zu zeigen, hätten die Terroristen darin erfolgreicher sein können?“ Die US-Armee sei im Morast zweier nicht zu gewinnender Kriege versunken, die die Vereinigten Staaten zum am meisten gehassten Land der Welt gemacht hätten. Terroristische Anschläge auf „Verbündete/Agenten“ der USA – darunter Indien – und amerikanische Interessen im Rest der Welt hätten seit dem 11. September dramatisch zugenommen. „Wer kann da behaupten, dass die Vereinigten Staaten den Krieg gegen den Terror gewinnen?“

Doch Roy will nicht nur anklagen. Sie will auch Teil der Lösung sein. Im Januar 2008 sagte sie bei einem Vortrag in Istanbul: „Ich bin nicht gekommen, um die globale Intellektuelle zu spielen, Sie zu belehren oder das Schweigen zu füllen.“ Stattdessen weiß sie Rat: „Die einzige Möglichkeit, den Terrorismus in Schach zu halten – es wäre naiv zu sagen, ihm ein Ende zu setzen –, ist, das Ungeheuer im Spiegel anzuschauen. Wir stehen an einer Weggabelung. Ein Schild deutet in die Richtung ,Gerechtigkeit’, auf dem anderen steht ,Bürgerkrieg’. Es gibt kein drittes Schild, und es gibt kein Zurück. Wir müssen uns entscheiden.“ Gut, dass die Dinge wenigstens in Roys Welt so einfach sind.

Roy stammt aus einem Land, in dem Waffengänge mit dem verhassten Nachbarn Pakistan, Massaker an religiösen Minderheiten und Terroranschläge beinahe schon zum Normalzustand geworden sind. Auch dies klagt sie schonungslos an. Dennoch stellt sich in ihren Essays der Verdacht ein, dass die Beschäftigung mit den Verbrechen anderer Nationen einen noch größeren Reiz auf sie ausübt. Aber dies ist keinesfalls ein singuläres Phänomen. Auch in Deutschland gibt es zahlreiche Stimmen, die gerne zu Gericht sitzen über die Vergehen von Nachbarn und Verbündeten. Die Amerikaner bekommen dies regelmäßig zu spüren. Nicht zuletzt daher dürfte Roys Essaysammlung viele deutsche Leser finden.









– Arundhati Roy:
Aus der Werkstatt der

Demokratie. Essays. S. Fischer, Frankfurt am Main 2010. 336 Seiten, 19,95 Euro.

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