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Kultur: Müde Glieder

Ein Wiedersehen mit alten Bekannten kann ja sehr heikel sein: Hat er oder sie immer schon so eine große Nase gehabt, fragt man sich, oder haben diese Musiker schon immer so lustlos gefiedelt? Prompt ist man in Verlegenheit.

Ein Wiedersehen mit alten Bekannten kann ja sehr heikel sein: Hat er oder sie immer schon so eine große Nase gehabt, fragt man sich, oder haben diese Musiker schon immer so lustlos gefiedelt? Prompt ist man in Verlegenheit. Beim Berlin-Gastspiel des Münchener Kammerorchesters erwies sich diese Sorge rasch als unbegründet. Jugendfrisch und nervig im Ton wie eh und je präsentierte sich das Ensemble im Kammermusiksaal, und nicht einmal die schütter besetzten Ränge vermochten dieses Ethos irgend zu trüben. Gewiss, Mozarts Sinfonie Nr. 28 diente hauptsächlich zum Recken und Strecken der reisemüden Glieder, und auch Schumanns Cello-Konzert fehlte irgendwie der Glanz. Ob sich Christoph Poppen am Pult nun allzu sehr in die Idee verliebt hatte, dem Konzert alle romantisierenden Klischees vom Leibe zu reißen, oder ob Jan Vogler, dem Solisten, ein wenig die klangliche Mitte abhanden kam - der Funke sprang nicht recht über. Nach der Pause aber war alles anders. Jörg Widmanns „Dunkle Saiten“ für Cello, Orchester und zwei Frauenstimmen von 1999/2000 nämlich tat allen Beteiligten gut: Jan Vogler, das Cello-Ich, sang und klagte und wandt sich schließlich, in einer höher und höher sich schraubenden Percussionspyramide, wie ein waidwundes Tier in seinem Blute; die Damen (die Stimmakrobatin Salome Kammer und die Mezzosopranistin Barbara Hölzl), denen gewissermaßen die Seele des erlegten Cellos überantwortet wurde, ergingen sich in schaurig schönen Vokalisen; und das Kammerorchester und Poppen zogen alle Register, vom Gründeln in allertiefsten, mythischen Tiefen bis zur grellsten Steigerung, vom grotesken Schabernack bis zur Stille des Schlusses. Mag sein, dieses Stück ist dramaturgisch noch ein wenig unorganisiert; mag auch sein, es berauscht sich allzu leicht am Füllhorn der eigenen Möglichkeiten. In jedem Fall aber hat diese Musik einen Körper, ein Feuer. Es brodelt, wohltuend fremd.Christine Lemke-Matwey

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