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Dirigent Michael Gielen: "Musik ist immer politisch!"

Der ewige Außenseiter: Morgen erhält der Dirigent Michael Gielen den Siemens-Musikpreis. Mit dem Tagesspiegel sprach er über den Preis, Musik als Protest und Resignation.

Im Haus der Familie Gielen am Mondsee im Salzkammergut. Ein strahlender Frühlingstag, Michael Gielen trägt Kniebundhose und ist etwas erschöpft vom Rummel der vergangenen Wochen. Das Gespräch findet in seinem Studio statt, vor dem Flügel steht ein riesiges (anthroposophisches) Notenpult, im Regal eine lange Reihe exotischer Glocken. Kaum haben wir Platz genommen, steht der 82-Jährige wieder auf.

Die Sonne blendet mich, ich ziehe besser die Vorhänge zu ... So, und jetzt stellen Sie bitte lauter Fragen, die mir noch niemand gestellt hat. Es ist schrecklich, dauernd dasselbe erzählen zu müssen.

Haben Sie den Siemens-Musikpreis eigentlich verdient?

Ja! (lacht) Er kommt ein bisschen spät, das schon. Manchmal, wenn ich gelesen habe, der Kollege X oder Y kriegt ihn dieses Jahr, habe ich gedacht, der eine ist 20 Jahre jünger als ich, der andere 30 Jahre jünger ... Vielleicht hat sich die Jury gesagt, jetzt wird’s aber höchste Zeit, sonst stirbt uns der noch weg.

Gilt der Preis mehr dem Dirigenten oder mehr dem Neue-Musik-Vorkämpfer und Komponisten Gielen? Oder ist er in erster Linie politisch zu verstehen: Wir ehren einen Außenseiter und kaufen uns so ein Stück Widerständigkeit zurück?

Das weiß ich nicht. Sicher leben wir in wenig widerständigen Zeiten, da ist ein großer Mangel, vor allem für die Kunst. Sich dieses Mangels bewusst zu sein, hieße aber, ihn fast schon wieder beheben zu können ... Ich bin da pessimistisch. Aber ich bin ja überhaupt Pessimist. Der Zustand der Welt ist doch eine Ka-tas-tro-phe! Ich bin kein Parteikommunist, aber das Einzige, was heute zählt, ist Geld, Geld und Geld. Das Geld der Banken. Geld, mit dem noch mehr Geld verdient werden soll und das selbstverständlich fehlt, um den Armen zu helfen. Wer protestiert, wer steht dagegen auf?

Lässt sich mit Musik denn protestieren?

Nicht wörtlich, wie ein Hanns Eisler das praktiziert hat. Wenn Sie so wollen, dann ist heute jede Beschäftigung, die nicht der Vermehrung des Kapitals dient, ein widerständiger Akt. Überhaupt ist Musik ja immer politisch, sie trägt sich schließlich in der Öffentlichkeit zu. Aber sie ist auch kompromisslerisch, nennt sich Betrieb und will selber Geld verdienen. Mit den Inhalten eines Beethoven oder Schönberg hat das nichts zu tun. Als ich den Adorno-Preis bekommen habe ...

... 1986, nach den Philosophen Norbert Elias, Jürgen Habermas und Günther Anders waren Sie der erste Musiker ...

.. habe ich in Frankfurt eine Dankesrede gehalten, die aus lauter Adorno-Zitaten bestand. Das hat großen Anstoß erregt. Ausdruck ist Ausdruck des Leidens, sagt Adorno. Oder, sinngemäß: Die gesellschaftlichen Konflikte beherrschen das Individuum. Damals war das anstößig, weil der bürgerliche Kunstliebhaber jedes dialektisch-aufgeklärte Denken unweigerlich mit den Taten der RAF in Verbindung brachte. Ich könnte diese Rede heute noch einmal halten und sie würde sicher besser aufgefasst werden als vor 25 Jahren. Wenn die deutsche Regierung der Meinung ist, dass es den Leuten mit Hartz IV noch zu gut geht, dann könnte es doch sein, dass die Arbeitslosen bei der nächsten Kürzung auf die Straße gehen – und dann wäre die Funktion von Kunst plötzlich ganz evident.

Ich weiß nicht, wie viele Neue-Musik-Spezialisten sich unter den Hartz-IV-Empfängern finden, Adorno jedenfalls hat im Restaurant gern Hummer bestellt ...

... jetzt werden Sie zynisch ...

Im Ernst: Haben die Menschen in Zeiten, in denen das Klima explodiert und Staaten bankrott gehen, nicht ein ganz natürliches Bedürfnis nach Schönheit, Trost, Erfüllung – durch Musik?

Das erinnert mich an den Ausruf einer Dame aus dem Board des Cincinnati Symphony Orchestra, nach einer Schubert- Webern-Montage: „Mister Gielen, what did you do to my Schubert?“ Wir betrachten die Klassiker als Eigentum und wollen nichts anderes, als uns noch einmal so angenehm berührt fühlen wie damals, als wir das „Dreimäderlhaus“ im Kino gesehen haben, mit Karlheinz Böhm als Schubert. Sicher, auch der Kitsch hat seine Berechtigung. Aber Kunst ist doch viel mehr. Unser Schubert-Bild darf sich nicht im Operettigen erschöpfen – und das tut es ja auch nicht. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist ungeheuer viel passiert, um den Verkrustungen der Kunstausübung zu Leibe zu rücken und die Wahrhaftigkeit der Werke neu sichtbar zu machen. Das sollten wir nicht vergessen, gerade heute nicht.

Droht dem 21. Jahrhundert ein solches Vergessen, im Sinne von: Wir haben verstanden – und sind so regressiv wie nie?

Es grassiert eine enorme Beliebigkeit. Nehmen Sie die jungen Komponisten. Schon als Chefdirigent des SWR-Sinfonieorchesters hatte ich bei den Donaueschinger Musiktagen mit vielen Partituren Schwierigkeiten. Sie erfüllten nicht, was eine neue, zeitgenössische Musik ästhetisch zu erfüllen hat: Protest einzulegen gegen die herrschenden Bedingungen. Nicht mitzuspielen im offiziellen Spiel. Aber diese antibürgerliche Qualität, diesen Aufbruch hat die Musik spätestens mit Schönberg oder mit Auseinandersetzungen wie der zwischen Alban Berg und Hans Pfitzner eingebüßt. Seither geht es bergab. Schon meine Generation hat sich hauptsächlich über Fragen der Rezeption und der Interpretation definiert. Dieser Niedergang wird uns schmerzlich treffen. In Berlin, höre ich, soll der Musikunterricht abgeschafft werden? Natürlich! Alles, was nicht relevant ist, stößt das Gemeinwesen irgendwann ab. Ein Irrsinn.

In Ihrer Biografie gehen das Politische und das Kompositorische früh eine handfeste Verbindung ein.

Ja, ja. 1946 habe ich in Buenos Aires an einer Demonstration gegen die Militärdiktatur teilgenommen. Da hat mir einer mit einem Holzpflock auf den Kopf gehauen, ich blutete fürchterlich und meine Eltern schickten mich in den Süden, damit ich nicht noch mehr Unsinn anstellte. Ich bin überzeugt: Dieser Schlag auf den Kopf hat die entscheidende Blockade in mir gelöst. Ich wollte längst selber komponieren, aber es kam nichts heraus! Mein Onkel war Eduard Steuermann, ein Schüler Schönbergs, ich arbeitete als Korrepetitor unter Erich Kleiber am Teatro Colon, der in Berlin Bergs „Wozzeck“ uraufgeführt hatte – also vielleicht waren die Schatten um mich herum ein bisschen lang. In diesen Zwangsferien in Patagonien aber habe ich mein erstes Stück geschrieben, eine Geigensonate. Und ich habe schnell begriffen, dass es zum Berufskomponisten nicht reichen würde – so innovativ wie der junge Boulez oder der junge Stockhausen wäre ich niemals gewesen. Also wurde ich Dirigent.

Ihr „Trostberuf“, in dem Sie von Anfang an heftig provozierten. Am legendärsten bei der Uraufführung von Bernd Alois Zimmermanns Oper „Die Soldaten“ 1965 in Köln.

Mit meiner Überzeugung, dass es sich um ein Meisterwerk handelte, stand ich zunächst ziemlich allein. Besonders das Gürzenich-Orchester mauerte nach Kräften. Jedes Mal, wenn ich auf der Probe abbrach, kam von hinten rechts, wo die Posaunen saßen, das Wort „Scheiße!“. Jedes einzelne Mal, 30 Orchesterproben lang! Das war zermürbend, es war überhaupt die schlimmste Zeit meines ganzen beruflichen Lebens.

Schlimmer als der Skandal um Hans Neuenfels’ „Aida“ in Frankfurt 1981?

Viel schlimmer! Erstens war ich in Frankfurt nicht allein, wir arbeiteten im Team, Christof Bitter als Intendant, Klaus Zehelein als Chefdramaturg und ich. Und zweitens mussten wir „nur“ die Aufführung durchsetzen und nicht das Werk. Das war leichter, das bürgerliche Publikum hat ja revoltiert, weil es glaubte, Verdis „Aida“ gegen uns in Schutz nehmen zu müssen. Als Ruth Berghaus im selben Jahr Mozarts „Entführung“ inszenierte, schrieben uns die Leute: „Ein Jude dirigiert, eine Kommunistin führt Regie und eine Negerin singt die Konstanze – das ist jetzt unsere Oper!“

Selige Zeiten, als die Kunst noch solche klaren Feindbilder kannte!

Es ging um die Inhalte, darum, mit den repräsentativen Schlampereien des Theaters zu brechen. Ich habe aufgehört, Oper zu dirigieren, weil ich genau das bei vielen jungen Regisseuren vermisse. Die erfinden sich eigene Stücke, die sie den Originalen aufpfropfen. Das Regietheater macht die ganze Opernpraxis kaputt, ich sage nur: Calixto Bieito. Furchtbar!

Was unterscheidet einen Bieito denn von einem Neuenfels?

Neuenfels, die Berghaus, der junge Peter Mussbach – das war Musiktheater, das war die Wahrheit! Selbst ein so fantasievoller und hochbegabter Regisseur wie Stefan Herheim hingegen ist in „La Forza del destino“ an der Lindenoper nicht davon abzubringen gewesen, dass das Volk die Hauptrolle spielt! Bei Verdi ist das durch nichts gedeckt, im Gegenteil, das Volk hat mit Abstand die schwächste Musik. Das war meine letzte Arbeit für die Oper. Meinem Freund Daniel Barenboim sage ich immer, ich bin zu alt, ich kann nicht mehr so lange stehen. Er versteht das.

Haben Sie resigniert?

Ich werde 83! Soll man mich mit den Füßen voran aus dem Graben tragen?

Sie gelten als intellektuell, streitbar und schwierig. Wollten Sie nie geliebt werden?

Jeder hat das Recht, seinen Standpunkt für richtig zu halten und dafür zu kämpfen. Ein Genie wie Carlos Kleiber konnte es sich leisten, unreflektiert zu sein. Bei ihm kam die Musik direkt aus dem Herzen. So jemanden liebt man leichter. Carlos hat mir nach einer TV-Übertragung einmal geschrieben, er bewundere, wie wenig ich beim Dirigieren mit dem Arsch wackle. Ein echtes Kompliment! Der wusste: Bei mir geht nix ohne den Kopf. Ob ich geliebt werden will? Von meiner Frau Helga, ja, seit über 50 Jahren. Ohne sie hätte ich mich nämlich längst umgebracht.

Das Gespräch führte

Christine Lemke-Matwey.

Michael Gielen wird 1927 in Dresden in eine Künstlerfamilie hineingeboren, der Vater Theaterregisseur, die Mutter Schauspielerin. 1940 emigrieren die Gielens nach Buenos Aires,

wo der Sohn seine Laufbahn als Korrepetitor am Teatro Colón beginnt – unter Dirigenten wie Erich Kleiber und Fritz Busch.

Nach Stationen in

Stockholm, Brüssel und Amsterdam wird Gielen 1977 Operndirektor in Frankfurt. Klaus Zehelein ist sein Spiritus rector, die Inszenierungen von Ruth Berghaus und Hans Neuenfels schreiben Theatergeschichte. Von 1986 bis 1999 leitet Gielen das SWR-Sinfonieorchester mit vielen Uraufführungen. Gielen hat immer auch selbst komponiert. Seine Erinnerungen

„Unbedingt Musik“ sind bei Insel erschienen.

Am 5. Mai erhält der

Dirigent im Münchner Cuvilliés Theater den Siemens-Musikpreis

(200 000 Euro) für sein Lebenswerk. Die Laudatio hält der mit Gielen befreundete Komponist Helmut Lachenmann.

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