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Kultur: „Musik macht einen Raum zur Kirche“

Der Dirigent Helmuth Rilling wird 80. Ein Gespräch über Bach, Mozart und das Alter.

Herr Rilling, gibt es ein bestes Alter für einen Dirigenten?

Nein. Es gibt wunderbare Aufführungen von jungen, unerfahrenen Dirigenten, die mit großem Enthusiasmus an eine Partitur herangehen. Und ebenso gute Aufführungen von älteren Dirigenten, die ihre große Erfahrung in die Interpretation einfließen lassen.

Sie studieren Werke, die Sie schon hunderte Male aufgeführt haben, wie Bachs h-Moll-Messe, immer wieder von Neuem. Haben Sie je das Gefühl, mit einem Stück „fertig“ zu sein?

Eine Aufführung der h-Moll-Messe wird heute anders sein, als sie gestern war. Nicht grundsätzlich, sondern in Details. Und wenn Details summiert erklingen, ergeben sich dann doch Veränderungen in Tempi, Dynamik, Längen von Pausen. Das sind im Endergebnis immer wieder neue Gedanken, die zu einem Stück dazukommen. Deshalb ist es sehr wichtig, dass man immer im Gespräch mit der Partitur und über die Partitur mit dem Komponisten bleibt. Und immer von Neuem versucht, seinen kreativen, schöpferischen Gedanken nachzuvollziehen.

Oft hört man bei verschiedenen Aufnahmen große Unterschiede in Bezug auf das Tempo. Wie finden Sie das richtige Tempo?

Es gibt in der Musikgeschichte Tempobezeichnungen, die relativ klar scheinen. Aber ein Allegro oder Vivace bei Mozart ist ein ganz anderes als bei Bach. Und es ist wieder anders, wenn wir in die Sinfonien Mahlers blicken. Man muss also fragen: Ist das ein Allegro, das sich von einem vorausgehenden, langsamen Tempo abheben will, oder beschreibt das Allegro den Charakter des Satzes? Da gibt es immer persönliche Entscheidungen.

Wird eine Aufführung eines geistlichen Werkes besser, wenn bei den Ausführenden oder Zuschauern ein enger Bezug zum Glauben besteht?

Ich bin so oft in fremden Ländern unterwegs, in denen der christliche Glaube nicht so verbreitet ist wie bei uns. Den Musikern sage ich dann: Sie müssen nicht an die Inhalte der christlichen Religion glauben, aber sie müssen sich damit befassen und versuchen, sie zu verstehen. Ohne das erreicht man beispielsweise Bach zu wenig in seiner Tiefe.

Macht es für Sie einen Unterschied, ob Sie geistliche Musik in einer Kirche oder im Konzertsaal aufführen?

Natürlich. Das Ideal ist, geistliche Musik in einer Kirche aufzuführen, wofür sie entstanden ist. Aber diese Wahl hat man nicht. Da muss die Musik selbst den Raum zur Kirche machen.

Stört es Sie, wenn nach einer Aufführung in der Kirche geklatscht wird?

Das ist eine sehr deutsche Mentalität zu sagen, „das war ein so wichtiges Stück, jetzt wird nicht geklatscht“. Ich finde, man kann auch nach einer Matthäus-Passion klatschen, der Beifall gilt ja auch dem Werk und nicht nur den Interpreten. Ich habe in Südamerika oft erlebt, dass der Beifall schon losging, bevor der Schlussakkord endete. Das zeigt, wie lebendig und emotional die Zuhörer sind.

Wären Bachs Passionen das Letzte, was Sie in Ihrem Leben hören wollen würden?

Ich würde durchaus etwas Neues hören wollen, aber nicht von Bach, sondern von einem heute lebenden Komponisten – Musik, die in eine Zukunft weist.

Sie studieren ausschließlich anhand der Partitur, hören Sie nie in Aufnahmen rein?

So gut wie nie. Warum soll ich etwas hören, was ich lesen kann? Ich kann das in der Partitur lesen und mir vorstellen. Das ist für mich besser, als etwas zu hören.

Sie pflegen ein enges Verhältnis zu Ihren Musikern, sind mit vielen per Du. Warum ist Ihnen das so wichtig?

Jeder muss es so machen, wie er es für richtig hält. Das Bild des Dirigenten hat sich in den letzten 30 Jahren erheblich verändert. Ich erinnere mich gut an Kollegen, die sehr autoritär vorgingen. Heute sind die meisten Dirigenten so eingestellt, dass sie mit ihren Orchestern, ihren Chören zusammenarbeiten wollen, nur dann entsteht ein wirklich gutes Ergebnis. Demokratie kann es nicht geben, aber einen Konsens, was die beste Lösung für eine bestimmte Arbeitssituation ist.

Am 24. August 2013 werden Sie nach 32 Jahren die Leitung der Bachakademie an Ihren Nachfolger Hans-Christoph Rademann übergeben. Sind Sie wehmütig?

Überhaupt nicht. Es ist eine ganz natürlich Sache, dass Wechsel in Ämtern stattfinden müssen. Ich bin dankbar, dass ich so lange Zeit die Gesundheit und die Kräfte hatte, diese Arbeit zu leisten, jetzt geht sie an einen jüngeren Kollegen über. Das freut mich, und ich hoffe, dass das Werk, das ich mit der Bachakademie schaffen konnte, in eine gute Zukunft geht.

Gibt es heute noch bedeutende zeitgenössische Kirchenmusik?

Natürlich. Ich habe mich immer bemüht, der zeitgenössischen Musik eine Plattform zu verschaffen, die Bachakademie Stuttgart hat viele Kompositionsaufträge vergeben. Mir war es immer wichtig, die schöpferischen Kräfte unserer Zeit für eine Auseinandersetzung mit geistlichen Texten zu gewinnen.

Trotzdem scheint die Institution Kirche als Auftraggeber keine Rolle mehr zu spielen …

Dafür habe ich die Kirche immer kritisiert. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts ist zu wenig wirklich bedeutsame geistliche Musik entstanden.

Das Gespräch führte Marie von Baumbach.

Helmuth Rilling,

geboren am 29. Mai 1933 in Stuttgart, nahm ale erster Dirigent alle Bach-Kantaten auf. Er gründete die Gächinger Kantorei und die Internationale Bachakademie.

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