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Musikbuchkritik: Ach, schweige, Gondoliere!

Hier ist alles Musik und hier wird alles zu Musik: Elke Heidenreich lauscht in ihrem Buch "Die schöne Stille" den Klängen Venedigs - und übt sich in poetischen Betrachtungen genauso wie sie ins Schwärmen kommt.

Das Liszt-Jahr hat sie zurück ins Bewusstsein gleiten lassen: Franz Liszts „La lugubre gondola“, die düstere Gondel, entstanden 1882 in Venedig, eine Impression für Klavier solo, wahrlich venezianisch, morbid und nebelig, wie ohne Taktstriche komponiert. Liszt schreibt das Stück bei einem Besuch im Palazzo Vendramin, wo seine Tochter Cosima mit ihrem Mann Richard Wagner residiert. Als der Schwiegersohn sechs Wochen später stirbt, erscheint die pianistische Tonmalerei plötzlich wie von der Vorahnung diktiert. In einer Totenbarke beginnt die letzte Fahrt des Titanen von Bayreuth über den Canal Grande zum Bahnhof, wo der Sarg in den Schnellzug nach München verladen wird.

Am Palazzo Vendramin, der heute als Kasino genutzt wird, hängt eine Gedenktafel, zu der Italiens Dekadenzdichter Gabriele d’Annunzio die Worte beigesteuert hat: „In diesem Palast verspüren die Seelen den letzten Hauch Richard Wagners, wie er sich ewig fortpflanzt gleich den Gezeiten, die den Marmor umspülen.“ Die Steinplatte ist nur vom Wasser aus zu sehen – aber Elke Heidenreich hat sie dennoch entdeckt. Auf der Suche nach der Musikmetropole Venedig war sie nicht nur mit offenen Augen unterwegs. Sie hat sich die Wintermonate ausgesucht, wenn der Nebel wattig über der Lagune liegt, wenn es früh dunkel wird – um ihren Hörsinn zu schärfen, um konzentriert hineinzuhorchen in die Kanäle und Gassen.

„Die schöne Stille“ nennt sie ihr Buch in bewusster Widersprüchlichkeit zu ihrem Vorgehen bei der Recherche. Denn in Venedig herrscht eine andere akustische Grundstimmung als in allen anderen Städten der Welt. Weil die Straßen fehlen. Auch wenn statt lautloser Barken längst Motorboote den Canal Grande verstopfen, hört man hier immer noch anderes: Das Ohr nimmt in den verwinkelten Gassen viel mehr wahr, als das Auge erfassen kann. „Wie oft bin ich stehen geblieben, um zu lauschen – einem Klavier, einem Gesang, Geigentönen“, notiert Heidenreich. „In Venedig ist alles Musik, wird alles zu Musik.“ Auch Möwengekreisch und Alltagsgeräusch. „Durchaus keine Stille, nie, aber lauter Muster ins Gehör“, schwärmte Rainer Maria Rilke.

Heidenreichs Buch ist natürlich eine Schwärmerei, voll poetischer Betrachtungen, eigener wie entlehnter. Man kann sich leicht vorstellen, wie sie an ihrem Schreibtisch sitzt, der überquillt von Notizen und Büchern, den Blick in die Ferne gerichtet, um aus ihrem übervollen Herzen einen Essay entstehen zu lassen, eine Liebeserklärung. Aber eben auch einen Stadtspaziergang in schönster feuilletonistischer Flaneur-Manier, bei dem man ihr nur zu gerne folgt. Weil man beim Lesen förmlich hört, wie sie zu einem Begleiter spricht, in diesem typischen, leicht überdrehten, eindringlich- euphorischen Heidenreich-Ton.

Die meisten der Komponisten, die Venedig einst zu Musikwelt-Ruhm verhalfen, kennen nur noch Fachleute. Zum Beispiel Adrian Willaert, der im 16. Jahrhundert den mehrstimmigen Gesang aus Flandern einführte. Diesen führten dann die Kapellmeister von San Marco zu höchster Blüte, indem sie mit mehreren, auf den Emporen des Doms postierten Chören faszinierende „Surround-Effekte“ erzielten. Europäische Fürsten schickten ihre Hofkapellmeister zur Fortbildung hierher, die Oper startete von der Lagune aus ihren Siegeszug, in den Ospedali, den Waisenhäusern, wurde auf höchstem Niveau musiziert.

In der berühmtesten dieser Institutionen wirkte Antonio Vivaldi, dessen „Vier Jahreszeiten“ zum Dauerbrenner der modernen Touristen-Beschallung avanciert sind. In unzähligen Kirchen locken Musikstudenten in Barockkostümen zum Divertimento – Heidenreich schwört aber, auch eine hoch ehrbare Taschenopern-Aufführungen von Verdis „Traviata“ in einem geisterhaften Palazzo erlebt zu haben.

Und dann sind da natürlich noch die Gondolieri, die immer „O sole mio“ schmettern müssen, ein Lied, das ausgerechnet von einem Neapolitaner komponiert wurde. Ach, würden sie nur schweigen! Und stumm mit ihrem Gefährt zur Einheit verschmelzen, wie Rilke sich das einst imaginierte: „Die Gondel ist vielleicht das Instrument der Stille, die Gondoliere steht wie der Violinschlüssel da, am Zeilenanfang ihrer Bewegung, die eine Musik der Lautlosigkeit und des Schweigens ist in unendlichen Abwandlungen und Steigerungen.“

Elke Heidenreich: Die schöne Stille. Venedig, Stadt der Musik. Mit Fotografien von Tom Krausz. Corso Verlag, Hamburg 2011.141 S., 19,90 €.

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