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© Musikfest/Bienert

Musikefest Berlin 09: Der verschobene Horizont

Wie modern ist Schostakowitsch? Ein Resümee zum Abschluss des "Musikfests Berlin 2009". Klar ist: Es kam mit diesem Schwerpunkt zur rechten Zeit.

Schöne Schlusspointe beim „Musikfest Berlin 09“: Nach all den abendfüllenden Weltkriegs- und Revolutionsepen verabschiedet sich das Festival mit einem Augenzwinkern. Ausgerechnet die forsche erste Sinfonie des 18-jährigen Jungspunds Dmitri Schostakowitsch schließt die Werkschau ab, in deren Rahmen in den letzten zweieinhalb Wochen elf seiner 15 Sinfonien auf die Podien von Philharmonie und Konzerthaus gewuchtet wurden.

Das erstaunt auf den ersten Blick, trifft aber doch besser das Kernanliegen des von Winrich Hopp konzipierten Musikfests, als es ein Finale in festlichem Bombast getan hätte. Denn schon die Gegenüberstellung mit Werken des griechischen 60er-Jahre-Avantgardisten Iannis Xenakis hatte schließlich deutlich signalisiert, dass es im Programm von Berlins größtem Klassikfestival nicht um enzyklopädische Präsentation gehen sollte. Nicht als romantischer Nachzügler, sondern als Komponist der Moderne sollte der 1975 verstorbene Schostakowitsch entdeckt werden, nicht als Erbe von Tschaikowsky und Mahler, sondern als Zeitgenosse von Schönberg, Strawinsky und John Cage.

Beherzt und frei von den Bedeutungsvorgaben „authentischer“ Schostakowitsch-Interpretation

Und was würde sich da, als Fazit wie als Signal an den Rest der Musikwelt, besser eignen als eben die Erste? Dieses vor Experimentierlust nur so strotzende Stück, in dem Schostakowitsch alle Knöpfe und Hebel des sinfonischen Apparats austestet, im Wechsel auf die Bremse und aufs Gaspedal drückt, mal die Lautstärke bis zum Anschlag aufdreht und dann plötzlich fast auf Null zurückfährt – als wolle er hören, wie Lärm und Stille klingen. Im Konzerthaus funktioniert das jedenfalls prächtig, weil Susanna Mälkki und die Junge Deutsche Philharmonie das Stück so beherzt und frei von den Bedeutungsvorgaben „authentischer“ Schostakowitsch-Interpretation mit ihrem russischen Kolorit angehen, dass das Stück tatsächlich wie neue und vor allem neugierige Musik klingt.

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Auch Kurt Masur dirigierte Schostakowitsch. -

© Musikfest/Bienert

Mit seinem Schostakowitsch-Schwerpunkt kommt das Berliner Musikfest zur rechten Zeit. Denn der immense Popularitätsschub, den diese Musik seit 20 Jahren erlebt, hat gleichzeitig einen Erklärungsdruck produziert: Wenn Schostakowitsch schon zum musikalischen Welterbe gehören soll und ebenso oft gespielt wird wie Mahler und Bruckner, dann müsste seine Musik auch ähnlich viele Bedeutungsebenen besitzen und sich von verschiedensten Perspektiven aus erfassen lassen. Dann müsste sie eben auch als absolute Musik funktionieren und Verzweiflung, Hoffnung und Humor auch jenseits der historisch-programmatischen Zusammenhänge vermitteln, aus denen heraus sie die großen Schostakowitsch-Interpreten der ersten Stunde wie Kirill Kondrashin und Evgenij Mrawinsky interpretiert haben.

Die Ränge waren nur schütter besetzt

Dass die „authentischen“ Interpreten weitgehend im Programm des Musikfestes fehlen, ist immerhin erstaunlich – ebenso wie im Übrigen das völlige Fehlen russischer Orchester. Ein Dmitri Kitajenko, ein Gennadi Roshdestvensky, ein Rudolf Barshai, das wären die Dirigenten der russischen Schostakowitsch-Tradition, die man hier eigentlich erwartet hätte. Vor allem aber auch ein Orchester wie die St. Petersburger Philharmoniker, die als Uraufführungsensemble der wichtigsten Sinfonien immerhin den originalen Schostakowitsch-Sound hätten beitragen können.

Dass die Ränge der Philharmonie bei den nicht ganz so prominenten Gastspielen, wie etwa beim Philharmonia Orchestra London oder den Bamberger Sinfonikern, nur schütter besetzt waren, dürfte im Übrigen auch daran liegen, dass das Orchesterangebot nicht so vielfältig war wie wünschenswert: Kein russisches, aber dafür fünf englische Orchester (vier davon aus der Hauptstadt) zum Thema Schostakowitsch einzuladen, ist nicht unbedingt ein Signal von Vielfalt.

Schostakowitschs Sinfonien schrumpften bei Dirigenten oft zu Filmmusik

Gleichviel – das Anliegen des Musikfests, den „modernen“ Schostakowitsch zu zeigen, wird so natürlich umso deutlicher. Auch weil der Dirigent, der noch am ehesten die erste Interpretengeneration repräsentiert, eben auch der älteste von allen Musikfest-Maestri ist. Kurt Masurs Sicht der 1941, während der Belagerung der Stadt durch deutsche Truppen, geschriebenen „Leningrader“ scheint noch ganz aus der eigenen Erfahrung von Krieg und Diktatur geboren. Die Sichtweise des 82-Jährigen hat in ihrem herben, schroffen Tonfall die ganze Dringlichkeit eines Zeitzeugenberichts, die einer solchen illustrativen Sichtweise erst ihre innere Berechtigung verleiht – inklusive des Gefühls für Doppelbödigkeit, wie es wohl nur Künstler besitzen, die Diktatur und Zensur am eigenen Leib erlebt haben. Die gleißenden Schlusstakte der „Leningrader“ etwa sind bei Masur kein Triumph, sondern ein Erstarren, bei dem es einem kalt über den Rücken läuft. Die helle Verzweiflung.

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... Ebenso wie Bernard Haitink. -

© Musikfest/Rosenberg

Eine großartige Lesart, die aber eben auch zeitgebunden ist: Tatsächlich schrumpften Schostakowitschs Sinfonien bei Dirigenten, die sie von ihren programmatisch-illustrativen Titeln anzugehen versuchten, ohne aus dem gleichen biografischen Erfahrungshorizont schöpfen zu können, in der Vergangenheit oft zu spektakulärer Filmmusik. Ein Gutteil der Vorurteile, denen die Stücke lange vor allem bei Moderne-geschulten Musikern begegneten, dürfte durch solche oberflächenorientierten Aufführungen zustande gekommen sein.

Ein Heimspiel für Simon Rattle und seine Musiker

Gerade deshalb kamen die schlüssigsten Beiträge nicht von den gefeierten Schostakowitsch-Experten wie Mariss Jansons und Valery Gergiev mit ihren vergeblichen Versuchen, Schostakowitsch mit den Mitteln orchestralen Schönklangs zum Klassiker zu adeln. Für das erhoffte zukunftsfähige Schostakowitsch-Bild sorgten vielmehr Dirigenten, die dieser Musik normalerweise ferner stehen: Simon Rattle und Gustavo Dudamel oder eben auch Susanna Mälkki.

Wenn Rattle die Philharmoniker durch die vierte Sinfonie lotst, strahlt das im Grunde die gleiche Neugier und den gleichen himmelsstürmenden Übermut aus wie Mälkki in der Ersten – allerdings in dreifacher Potenz. Rattles Vierte ist das Stück eines Komponisten, der sich an seinen Möglichkeiten berauscht, der mit jedem Satz einen neuen Horizont aufreißen will. Der unbedingte Positivismus Rattles, seine mit den Philharmonikern mühsam erarbeitete Fähigkeit, jedes Detail mit größtmöglicher Lebendigkeit aufzuladen, haben hier ein ideales Objekt gefunden. Ob Rattle auch einen Tonfall für die späteren, düsterer gestimmten Sinfonien findet, werden die nächsten Jahre zeigen.

Die Philharmoniker, die Hauptgewinner des Musikfests, haben diesen Sound jedenfalls: Pechschwarz ist der Tuttiklang, den Gustavo Dudamel ihnen für die zwölfte Sinfonie abtrotzt. Der Venezolaner, jüngster aller beteiligten Dirigenten, sorgt für die größte Überraschung des Musikfestes: Ganz entgegen seinem Ruf als gutgelaunter Erlebnismusiker gestattet er sich bei seiner Zwölften keinerlei schildernd filmmusikalische Auspinselungen der Satzprogramme. Nicht um „Das Jahr 1917“ geht es in seiner strengen, unerbittlichen Lesart, sondern um institutionalisierte Gewalt. Um Musik, die so undurchdringlich ist, dass sie keine Ritze mehr frei lässt und die sich wie ein bleierner Block auf die Seele legt. Man muss nicht in einer Diktatur gelebt haben, um diese Musik zu verstehen. Und wir haben gerade erst begonnen, die Musik des Dmitri Schostakowitsch zu entdecken.

Jörg Königsdorf

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