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Kultur: My Way

Dietrich Diederichsen über verfrühte und verspätete Lebensbilanzen Die PopMusik lebt davon, dass junge Spinner, die eigentlich doch noch gar nichts wissen können, auftreten, als wüssten sie alles – und damit durchkommen. Ihre Wahrheit liegt also darin, wie sehr es einem ihrer Künstler gelingt, sich als zuverlässiger Experte für sein Thema darzustellen.

Dietrich Diederichsen über verfrühte und verspätete Lebensbilanzen

Die PopMusik lebt davon, dass junge Spinner, die eigentlich doch noch gar nichts wissen können, auftreten, als wüssten sie alles – und damit durchkommen. Ihre Wahrheit liegt also darin, wie sehr es einem ihrer Künstler gelingt, sich als zuverlässiger Experte für sein Thema darzustellen. Je präpotenter desto besser. Am schönsten ist das immer, wenn ein 20-Jähriger auf sein Leben zurückblickt wie sonst nur Sinatra oder Juhnke auf der Schwelle zu Grab oder Backstage-Party („My Way“). Man meint normalerweise, Sid Vicious wäre auf diesem Gebiet nicht zu schlagen, und „My Way“ mit 20 zu singen, an Chuzpe nicht zu überbieten. Zumal er dies anschließend durch den eigenen Tod noch retroaktiv zu legitimieren wusste. Aber das war natürlich der Fehler: die größte Dummheit ist es immer, die präpotente Selbstermächtigung durch Pop-Musik anschließend durch Taten in der wirklichen Welt legitimieren zu wollen – das verdirbt die Freuden der Präpotenz. Wenn es um solche Taten ginge, bräuchte man ja keine Pop-Musik, dann kann man sich gleich für Sportler und Immobilienmakler begeistern.

Interessanter aber als Vicious, der ja vom Konzept und Genre her unverschämt sein musste, ist der Fall einer Lebensbilanz wie „In My Life“ von den Beatles. Auch hier war der Songwriter gerade mal 25, das Erfahrungs-Ich das hier auf ein bewegtes, erfülltes Leben zurückblickt, meint wahrscheinlich gerade mal die letzten vier Jahre. Dennoch bieten die Leerformeln dieses perfect pop song offensichtlich so viel Spielraum, dass sich auch Ältere darin wohlfühlen.

Unlängst etwa die Brasilianerin Rita Lee, seit den Sechzigern Superstar Südamerikas. Sie hat „In My Life“ jetzt gleich zwei Mal aufgenommen; auf englisch wird sie durch die Aufzählungen von vagen Pluralen („places and their meanings“, „friends and lovers“, „some dead and some living“) wieder zur jungen Frau. Genau wie John Lennon ist ihr die Lebensbilanz eine Möglichkeit, sich auf den Moment des Erwachsenseins wegen der dann gehabten Erlebnisse zu freuen: Betonung noch auf Erlebnisse. Aber sie hat nur zwei Titel ihres Beatles-Hommage-Albums „Bossa’n’Beatles“ auch auf Portugiesisch aufgenommen, darunter eben „Minha Vida“. Die Übersetzung soll bezeugen, dass aus der Jugenderinnerung nun eine aktuelle Position geworden ist und in demselben Song Platz hat. Die Überprüfung der Vorwegnahme eines Midlife-Zustands, die Lennon selber leider nie vornehmen konnte. Betonung jetzt auf dem „gehabt“ des Perfekt.

Aber noch weit längere Leben lassen sich eindrucksvoll und ohne Verlust auf den Bilanzentwurf dieses 25-Jährigen bringen. Dies hat jetzt Johnny Cash demonstriert: ein alter Mann if there ever was one. Ein Mann, der, leider, einen Teil seines späten Ruhmes der Tatsache verdankt, dass er segensreich Altgewordensein so verständlich verkörpert: den Moment nach all dem Stress, auf den sich viele Überforderte freuen – aber nicht wegen gehabter Abenteuer, Erlebnisse und Ekstasen im Futur II, wie John Lennon, sondern wegen endlich Ruhe, Todestrieb. Mit seiner Version bestätigt und wiederlegt Cash diese Projektionen seiner Fans. Indem er einen für ihn zarten Song covert, wird es besonders unheimlich. Jemand wie Cash bringt ja seine ganze Persona in den Song, und diese Persona (nicht die Person) hat ja alles Mögliche erlebt. Wenn sie von Lennons ungenau melancholisch angeschmachteten „Places“ singt, denkt man automatisch an ganz konrete, etwa Reno, wo die Cash-Persona bekanntlich einen Mann umbrachte, nur um ihn sterben zu sehen. Und so weiter. Cash tut fast nichts dazu, die unglaubliche Wirkung, die aus dem bloßen Aufeinandertreffen zweier popmusikalischer Sinneinheiten entsteht (dem ahnungslos vom einst hinter sich gebrachten aufregenden Leben träumenden Beatles-Song und dem brachial grenzgängerischen Leben der Cash-Kunstfigur) zu steigern. Er lässt die Substanzen miteinander reagieren. Und man versteht, wie Pop-Musik chemisch zusammengesetzt ist: aus Musik auch, vor allem aber aus klar konturierten halbfiktiven Charakteren, Lebensmodellen und den keineswegs beliebigen Projektionen ihrer Beobachter.

Aber Cash arbeitet auch das in allen anderen Fassungen untergegangene Argument des Songs heraus: weil ich das alles erlebt habe, kann ich sagen, dass die aktuelle Liebe mir viel mehr bedeutet als die vagen Erinnerungen – bei Lennon und Lee bleibt das Floskel.

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