zum Hauptinhalt
Das Gefühl der Ohnmacht hat paradoxerweise viele mobilisert: der „Marsch der Millionen Herzen“ am 1. Oktober in Warschau.

© NurPhoto via Getty Images/NurPhoto

Nach den Wahlen in Polen: Endlich, wir atmen wieder

Acht Jahre wurde die Demokratie in Polen schikaniert und abgebaut. Offenbar haben immer mehr polnische Bürger sie ebendeshalb lieben gelernt.

Ein Gastbeitrag von Anna Kowalczyk

Es ist lange her, dass ich vor Freude so viel geweint habe, und das auch noch wegen Parlamentswahlen. Als am Sonntag kurz nach 21 Uhr die ersten Prognosen bekannt gegeben wurden und sich abzeichnete, dass die rechtskonservative PiS-Partei, die seit acht Jahren unangefochten regiert, nicht mehr in der Lage sein würde, allein zu regieren, und wohl auch keine Koalition bilden kann, musste ich mich sehr zusammenreißen, um meinem Mann nicht um den Hals zu fallen.

Er saß gerade am Steuer. Stattdessen schrien wir vor Glück. Und mit uns Millionen von polnischen Frauen und Männern.

Wir hörten diese (wie sich herausstellte, aussagekräftigen) Prognosen im Autoradio, als wir gerade von einem halbtägigen „Wahlausflug“ mit der Familie in den Süden des Landes nach Warschau zurückkehrten. Im Süden, wo wir beide herkommen, genoss die PiS eine starke, stabile Unterstützung. Und die Wählerstimmen aus dem Süden haben aufgrund einer komplizierten Arithmetik bei der Umwandlung von Stimmen in Sitze mehr Gewicht als die Stimmen aus der Hauptstadt.

Wir waren an diesem Tag nicht die einzigen „Wahltouristen“. Tausende von Menschen im In- und Ausland machten sich die Mühe, noch größere Entfernungen als wir zurückzulegen oder stundenlang in den Wahllokalen anzustehen. In den zwanzig Jahren, in denen ich von meinen Rechten als Bürgerin Gebrauch gemacht habe – ich habe ausnahmslos bei jeder Wahl meine Stimme abgegeben –, habe ich noch nie eine solche Mobilisierung und Aufgeregtheit erlebt. Wohl die größte in der gesamten Geschichte der polnischen Nachkriegsdemokratie.

Die Rekordbeteiligung von 74,38 Prozent übertraf jedenfalls den von 1989, als polnische Frauen und Männer nach einem halben Jahrhundert kommunistischer Diktatur erstmals ein demokratisches Parlament wählen konnten. In einem karnevalistischen Rausch machte die Bevölkerung von ihrem Recht Gebrauch, die Wahlbeteiligung lag damals bei 62,7 Prozent. Seither liegt sie meist nur bei der Hälfte der Wahlberechtigten. Das hat damit zu tun, dass die Polen, vor allem die jungen Menschen, der parlamentarischen Politik eher misstrauisch begegnen. Sie haben eine schlechte oder gar keine Meinung über die Abgeordneten und Senatoren und glauben, dass sie wenig Einfluss auf die Politik und den Rechtsstaat haben.

Wieso hat sich das offenbar geändert? Waren es Müdigkeit und Frustration wegen der Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit seit vielen Jahren, der Beschneidung der Bürgerrechte, insbesondere der Rechte von Frauen und LGBTQ-Personen? Lag es an den vielen Korruptionsskandalen, nicht zuletzt an der aufdringlichen nationalistischen, antieuropäischen Propaganda? Sie dominierte nicht nur die öffentlichen Medien, sondern praktisch den gesamten polnischen Alltag, soweit der Staatsapparat Zugriff auf ihn hat, von Schulbüchern bis zu den Angeboten von Postämtern und Tankstellen.

Hat die Inkompetenz der Machthaber während der Pandemie, während des Kriegs in der Ukraine oder zuletzt der Inflation zu der Wählermobilisierung geführt? Oder war es eher die Hoffnung auf die Oppositionskandidaten, die endlich weitgehend mit einer Stimme sprachen und zwei Wochen vor der Wahl beim sogenannten „Marsch der Millionen Herzen“ eine riesige, bunte Menschenmenge auf die Straßen von Warschau lockten?

Es könnte auch an den unzähligen Wahlwerbeaktionen und Initiativen von NGOs gelegen haben, die die Polen mit Einfallsreichtum, Witz und auf verschiedensten Kanälen davon überzeugten, dass Veränderungen nicht nur notwendig, sondern auch möglich sind. War das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte?

74,38
Prozent betrug die Wahlbeteiligung in Polen am vergangenen Sonntag. Ein Rekord.

Die Aktionen erinnerten daran, dass wir entgegen allem Anschein einmal alle vier Jahre die politische Realität tatsächlich beeinflussen können. Selbst ich als ausgesprochene Befürworterin von Aktivismus und bürgerschaftlichem Engagement, die bei zahllosen Demonstrationen, Mahnwachen und Petitionen ihren Widerstand gegen die Regierenden zum Ausdruck gebracht hat, erwartete mir nicht viel von dieser Wahl.

Ich war daran gewöhnt, dass wir protestieren und es die Behörden nicht kümmert. Dass die Mehrheit in den Umfragen in der Mitte oder leicht links steht und sie trotzdem nach rechts ziehen. Bis an den äußersten Rand des Spektrums, an die Grenze der Belastbarkeit dieser Gesellschaft, die immer noch ein bisschen weiter gedehnt werden konnte. Und weiter. Und noch weiter.

Ich bin es gewohnt, dass die Betonmauer der konservativen Mehrheit hält. Auch dann, wenn wir zu Tausenden und Millionen auf die Straße gehen, wie 2017 bei der Zerschlagung der unabhängigen Gerichte oder 2020 bei den „schwarzen Märschen“ gegen die weitere Verschärfung des ohnehin schon harten Abtreibungsgesetzes. Denn diese Mehrheit verfügte über sämtliche Macht- und Gewaltinstrumente: die Parlamentsmehrheit, alle Ressorts der Regierung, das Präsidentenamt, die Zentralbank, Polizei und Militär, das Bildungswesen, den Ombudsmann und sogar das Verfassungsgericht.

Die Zivilgesellschaft erhebt sich

Jahr um Jahr hatten sie die Instrumente der Gewaltenteilung und -kontrolle weiter monopolisiert, bis keines mehr übrig war. Sie taten alles, um sich der demokratischen Kontrolle zu entziehen. Was sie bis zu einem gewissen Grad zwar manipulieren, aber nicht hundertprozentig dominieren konnten, war die öffentliche Meinung.

Obwohl sie auch das versucht haben. Mit dem Exklusivzugang zu öffentlichen Geldern wollten sie alle widerspenstigen Medien, Kultureinrichtungen oder wissenschaftlichen Zentren aushungern, die nicht in den Chor der Claqueure und Speichellecker der Regierungspartei einstimmten. Dort, wo sie die Teams nicht durch „ihre eigenen“ ersetzen konnten (obwohl sie es überall versuchten), stoppten sie Zuschüsse, Subventionen und jegliche staatliche Hilfe.

Für viele verdiente Institutionen und Initiativen bedeutete dies einen verzweifelten Kampf ums Überleben und dann ein langsames Dahinsiechen. Andere lernten, den Mund zu halten, abzuwarten, brisante Themen zu meiden und so weit wie möglich trotzdem ihr eigenes Ding zu machen. Allerdings blieben viele damit weit unter ihren Fähigkeiten, Talenten und Kompetenzen. Und sie lebten mit dem ständigen Gefühl der Ungewissheit, was die Zukunft bringen wird.

Originelle Slogans fanden sich viele beim „Marsch der Millionen Herzen“ am 1. Oktober in Warschau.

© IMAGO/Volha Shukaila

Ein Nebeneffekt des Drucks auf unabhängige Journalisten, Künstler und Aktivisten war jedoch auch ihre Mobilisierung. Einrichtungen, die zuvor weitgehend von staatlicher Finanzierung oder dem Sponsoring durch staatliche Unternehmen abhängig waren, lernten, sich anderswo Geld und Unterstützung zu suchen. Sei es in der Wirtschaft, bei privaten Spendern oder per Crowdfunding.

„Jaroslaw, deine Regierung wird von den Frauen gestürzt“

Oder sie lernten, mit sehr geringen Summen effektiv zu arbeiten, indem sie sich auf das Engagement von Freiwilligen stützten. Gleichzeitig beförderten sie Solidarität, Gemeinschaftssinn und bürgerschaftliches Engagement, dessen Fehlen wir hier an der Weichsel seit vielen Jahren beklagen. Paradoxerweise hat uns die Ohnmacht gegenüber einer allmächtigen Obrigkeit Kraft gegeben und Mut gemacht. Wir haben begriffen, dass wir selbst für uns einstehen müssen und können, indem wir einander unterstützen und uns nicht unterkriegen lassen.

Das Gleiche kann man von den polnischen Frauen sagen. Sie haben Erfahrung mit der Arroganz der Macht und mit dem Patriarchat. In der polnischen Regierung gab es einmal mehr Männer, die Mariusz heißen, als Frauen insgesamt. Hinzu kommt ihre ultrakonservative Vorstellung von Familie und Gesellschaft, in der Frauen in erster Linie reproduktives, fürsorgliches „Kapital“ sind.

Potestkundgebung gegen die Verschärfung des Abtreibungsrechts, 2020 in Warschau.

© dpa/Czarek Sokolowski

Die polnischen Frauen haben gelernt, nun ja, damit klarzukommen. Die Selbstorganisation der Frauen ist hoch, sie zeigt sich überall, am deutlichsten wohl nach der drakonischen Verschärfung des Abtreibungsverbots. Abtreibung ist illegal in Polen, sie wird zunehmend von Polizei und Staatsanwaltschaft verfolgt. Aber gleichzeitig wird mehr denn je für die Legalisierung der Abtreibung gekämpft. Seit 1993 sind Abtreibungen in Polen nicht mehr legal und kostenlos möglich, seitdem verbreitete sich der Zugang zu Wissen darüber sowie zu Spezialisten und Zentren, die Frauen mit ungewollten Schwangerschaften helfen.

Seit Jahren argumentieren Feministinnen, dass eine Frau, die nicht schwanger sein will, immer einen Weg finden wird, die Schwangerschaft abzubrechen. Die Forschung belegt dies. Heute wird sie bei der Suche nach diesem Weg von zahlreichen Frauengruppen unterstützt. Die Gruppen arbeiten voller Stolz, in aller Offenheit. Der unter polnischen Abtreibungsaktivistinnen verbreitete Slogan „You will never walk alone“ ist vor unseren Augen Realität geworden.

Bezeichnenderweise deutet vieles darauf hin, dass das prodemokratische Wahlergebnis auf die Erstwähler zurückzuführen ist, die vor acht Jahren, als die PiS an die Macht kam, noch die Grundschule besuchten. Die Stimmen der jungen Frauen spielten dabei nochmals eine besondere Rolle. Kein Wunder, denn die jungen Leute und insbesondere die Frauen wurden von der PiS nicht gehört und nicht respektiert.

Acht Jahre lang haben wir die Luft angehalten

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich will keineswegs sagen, der Abbau von Demokratie, Pluralismus, Frauen-, Minderheiten- und Menschenrechten seit etwas Gutes und habe am Ende für uns funktioniert. Ganz und gar nicht. Es wird Jahre dauern, bis der Schaden, der in den letzten acht Jahren entstanden ist, wiedergutgemacht ist. Niemand wird die Frauen zurückholen, die keine lebensrettende Abtreibung erhalten haben. Niemand wird die Traumata der Schwulen und Lesben auslöschen, die geschlagen und bespuckt wurden. Niemand wird die Kinder trösten und sich um sie kümmern, die nicht die Möglichkeit hatten, die 24-Stunden-Hotline für Gewaltopfer anzurufen, weil ihr die Finanzierung entzogen wurde. Der Grund: Sie habe angeblich die „Gender-Ideologie“ unterstützt.

Auch wird niemand die verlorene Zeit von Forscherinnen und Forschern, Künstlern und Kulturschaffenden zurückholen, die ihre Projekte und Talente an den Nagel gehängt haben. Niemand kann die zerbrochenen Leben und Persönlichkeiten zählen. Niemand kann uns die verlorenen Jahre zurückgeben, in denen wir eine immense Last auf unseren Schultern und in unseren Herzen trugen. Erst seit sie von uns abgefallen ist, spüren wir, wie schwer sie war.

Wir haben die Demokratie lieben gelernt, als man sie uns wegnehmen wollte

In meinem Freundes- und Bekanntenkreis herrschte anfangs ekstatische Freude vor, inzwischen ist da vor allem das Gefühl der Erleichterung. „Ich fange endlich an zu atmen“ – schreiben sie, und ich weiß, wovon sie sprechen. Die letzten acht Jahre haben wir jedes Mal die Luft angehalten, wenn die Grenze zwischen Legitimität und Verachtung noch einmal verschoben wurde. Wir haben versucht, nicht vor Wut zu ersticken, wenn unsere Proteste nichts brachten. Wir schluchzten vor Hilflosigkeit, wenn sie wieder einmal das Gesetz und die Demokratie verhöhnten, und wir wussten, dass sie es durften. Denn niemand würde etwas gegen sie unternehmen.

„Aber man sieht, dass man auch ohne Luft leben kann“, schrieb die polnische Lyrikerin Maria Pawlikowska-Jasnorzewska in einem Gedicht, wenn auch im Kontext einer romantischen Sehnsucht. Man kann sich daran gewöhnen.

Heute habe ich das Gefühl, dass wir gerade in dieser Atemlosigkeit die liberale Demokratie mehr denn je lieben lernten. Wir haben ihre Tugenden und ihre Schwächen erlebt und sie erst dann wirklich zu schätzen gelernt, als sie uns weggenommen werden sollte. Und sie wurde uns fast weggenommen. Wir sehnen uns nach ihrem fehlerhaften, aber unbestreitbaren Charme und heißen sie mit offenen Armen willkommen. Mit Leichtigkeit und neuer Hoffnung. Die bekanntlich zuletzt stirbt. Zum Glück.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
false
showPaywallPiano:
false