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Kultur: Nach Schieflage der Dinge

„Papperlapapp“ im Papstpalast: Christoph Marthaler eröffnet das 64. Theaterfestival Avignon

Ein alter Planwagen ist in dem gotischen Torbogen rechts der Bühne geparkt. Ihm entsteigt ein hagerer Mann mit Blindenstock und knallroten Schuhen. „Follow me“, sagt er zu der zögerlichen Gruppe. Die Welt wie am ersten Tag: Menschen kommen, die Erde zu bevölkern, ihr Hirte fordert sie auf, die Schönheit der Schöpfung zu bewundern. Dumm nur, dass der Reiseführer blind ist und vom Justizpalast in Brüssel spricht, statt vom Ehrenhof der Gegenpäpste in Avignon.

Schöner könnte das erste dezidiert katholische Stück des Schweizers Christoph Marthaler kaum beginnen, der in diesem Jahr als einer der beiden artistes associés das 64. Festival d’Avignon nicht nur eröffnet, sondern auch mitgestaltet; der andere ist der Schriftsteller Olivier Cadiot. Marthaler hat sein Stück „Papperlapapp“ exklusiv für den Papstpalast konzipiert. Gleich zu Beginn geraten Mensch und Raum so humorvoll in eine Schieflage des Sinns, sind Ding und Wort durcheinandergewirbelt. Aber genau das ist auch das Problem des ausschließlich in Avignon gezeigten Stücks: Es sucht sein Thema auf verwirrend vielen Wegen.

Da ist zum einen Anna Viebrock, Marthalers Bühnenbildnerin und Schöpferin unvergleichlicher Daseins-Behältnisse, die hier erstmals eine Freiluftbühne einrichtet. Diverse abgenutzte Bodenbeläge ziehen sich über die große Spielfläche, sieben Sarkophage sind errichtet, eine große Waschmaschine, eine Coca-Cola-Kühltruhe, ein Beichtstuhl mit einigen Kirchenbänken. Nach Spaziergängen in Avignon abseits der noblen Kulturerbestätten hat die Bühnenbildnerin im Sozialbau der 70er Jahre Anregungen gefunden. Sie hat die Renaissance-Fensteröffnungen mit billigen Plastikfenstern ausgestattet und Klimaanlagen daruntergehängt. Natürlich ist das auch als Profanierung und Verhunzung eines Raums zu verstehen, der im kollektiven Gedächtnis Avignons immer noch als Theater-Olymp gilt, als Kultstätte für höhere Einsichten. Wird er nun heruntergewirtschaftet zum Spaßort eines niederen Katholizismus?

Andächtig kniet die Reisegruppe nun vor einem Beichtstuhl, aber aus diesem stieben kreischend die Funken einer Schleifscheibe, und als sich die Tür öffnet, kommt an der Innenwand eine Kollektion von Nacktbildern zum Vorschein. Und schon werden aus den geisterhaften Reisenden Männer und Frauen, die sich küssen und übereinander herfallen, bis ein religiöses Ritual sie wieder trennt.

Nachdem die Männer sich auf den Sarkophagen zur Ruhe gelegt haben, fallen aus einem Fenster hoch über der Bühne sieben Kleiderbündel herab, es sind päpstliche Gewänder. Sieben französische Päpste waren es auch, die im 14. Jahrhundert in der Rhonestadt residierten. Aber kaum sind die Talare angelegt, kaum haben die Marthaler-Menschen den zeremoniellen Pomp erprobt, wird die religiöse Kleiderordnung schon wieder abgestreift und schnöde in die Waschmaschine verfrachtet. Rein bleiben soll die Hülle, für den Körper kommt ohnehin jedes Heilsversprechen zu spät. Beim nächsten Prozessionsversuch stolpern die Gottsucher nur noch über die Bühne, beim letzten Abgang schließlich sind Krücken vonnöten.

Marthaler hat das Ensemble musikalisch fein auf den Raum abgestimmt, lässt seine Chöre in einem verhaltenen Piano singen und einen Konzertflügel hinter einem gotischen Durchbruch erklingen, als sei die Musik eben doch die Welterlösung von jedem Schmutz, jeder Glaubensverhunzung, jedem Papperlapapp.

Aber dann lässt er ein unendlich langes atonales Crescendo zu einem einzigen ohrenbetäubenden Grollen und Schreien anwachsen: Krieg dem Palast. Aber der Kampf mit dem Raum ist für den Theatermacher verloren; er wehrt sich gegen das Diktat der Architektur mit einer verzweifelten Geste und einem Ton, der bislang nicht zum Marthaler-Register gehörte.

Das ist etlichen Zuschauern zu viel, nicht wenige verlassen in Avignon die Vorstellung. Was sie verpassen: einige kleine Paar-Geschichten, Gespräche zwischen dahindösenden Männern und den Frauen, die neben den Sarkophagen stehen. Sie handeln von den Irrtümern der Päpste bis in die heutige Zeit. Immer wieder fragen die Frauen ihre Männer, ob sie wissen, was sie zu sich nehmen, wenn sie Rotwein trinken und erinnern die Gatten an die Eucharistie. Ein Umarmungsversuch endet damit, dass der Umworbene über den Sargdeckel stürzt und bald zur Hälfte im Bühnenboden verschwindet, während sie ihren Unterkörper in der Kühltruhe versenkt. Der Sexus gerät ins kühle Abseits.

Dass alles Leben auf diesem Planeten der Liaison von Männlichem und Weiblichem entspringt, weiß jeder, der in Sachen Evolution weniger der Schöpfungsgeschichte glaubt als den Grundregeln der Biologie. Der Katholizismus mit all seinen Päpsten und Glaubensmaximen wollte dieses Wissen oft genug austreiben. Am Ende, nach einer etwas zu lang geratenen Glaubensdämmerung, verlassen die verwirrten Reisenden den Papstpalast als sieche, gebrochene Kreaturen.

„Papperlapp“ eröffnete das Programm mit insgesamt 34 Aufführungen, darunter ein älterer Marthaler, „Schutz vor der Zukunft“ von 2006, Shakespeares „Richard II.“ in der Regie von Jean-Baptiste Sastre, Andreas Kriegenburgs Kafka-„Prozess“ aus München sowie Tanzstücke von Alain Platel und Anne Teresa De Keersmaeker.

Im Programmheft von „Papperlapapp“wird übrigens eine fantastische Schöpfungsgeschichte erzählt, in der ein Mann des Nachts über Schlaflosigkeit klagt und auf ewig zum Chronisten der ungeträumten Träume wird. „Papperlapapp“, denkt Gott daraufhin und erschafft die Welt, wie wir sie kennen. Gottes Kreation ist eine kleine Welt: Wer sie träumend überwindet, erfindet andere, größere Universen. Vielleicht ist es ja das, womit die rätselhafte Metaphysik dieses Marthaler-Abends doch noch aus dem Palastgemäuer herausführt, das sich als veritables Gefängnis entpuppt hat.

Theaterfestival Avignon, bis 27. Juli. Informationen: www.festival-avignon.com

Eberhard Spreng

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