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Bricht der Kontinent auseinander? „GrenzenNiederSchreiben“ lautet das Motto der öffentlichen Konferenz in Berlin, zu der 29 Autorinnen und Autoren eingeladen sind.

© REUTERS

Nachdenken über Europa: Traum in Scherben

Einladung zur Konferenz: Vor Pfingsten diskutieren Schriftsteller in der Berliner Akademie der Künste über Europa. Unser Autor Tilman Spengler ist einer der Initiatoren.

Am 9. und 10. Mai findet in der Berliner Akademie der Künste wieder die Europäische Schriftstellerkonferenz statt, diesmal zum Thema Europa und seine Grenzen. Fünf Diskussionsrunden sind vorgesehen, am 9. Mai steht außerdem die Lange Nacht der Europäischen Literatur im Deutschen Theater auf dem Programm. Initiiert wurde die Konferenz von Mely Kiyak, Nicol Ljubic, Antje Rávic Strubel, Frank-Walter Steinmeier und dem Autor unseres Beitrags, Tilman Spengler. Die Konferenz ist öffentlich, der Eintritt frei, zur Teilnahme ist lediglich eine Anmeldung erforderlich. Informationen: http://europaeischeschriftstellerkonferenz.eu. (Tsp)

Um die Begriffe „Konferenz“ oder „Kongress“ hängt, das hat schon Oskar Maria Graf bemerkt, selten ein heiteres Mäntelchen. Auch wenn die Teilnehmer in allererster Linie Literaten sind. Die Gesprächsform der Konferenz ist für Schriftsteller unzweifelhaft eine aus anderen Lebenswelten geborgte Form, in denen die Münder der Teilnehmer streng auf Mikrofone gerichtet sind und nicht Kaffeetassen, Weingläser oder Zigaretten der Lippen Aufmerksamkeit erheischen. Das Lachen ist bei diesen Veranstaltungen meist ein seltener Gast.

So scheiterte Graf letztlich, als er im Herbst 1934 auf dem 1. Allunionskongress der Sowjetschriftsteller in Moskau versuchte, die Versammlung zu erheitern. Graf hatte sich für seinen Auftritt in bayrische Tracht geworfen, Leinenhemd, Lederhosen, Janker, Wadlstrümpfe, das volle bajuwarische Programm, „auf dem Kopf das Hütel mit den Federn“, wie er sich später erinnerte. Immerhin konnte er festhalten: „Der ganze Betrieb kam einigermaßen ins Stocken.“

Der Auftritt des Schriftstellers aus Bayern, der aus dem Exil angereist war, brachte diese Erörterungen leider nur für allzu kurze Zeit ins Stocken. Der Kongress hinterließ auf vielen Dokumenten den Eindruck, Schriftsteller seien gewiss wortgewandter, doch politisch nicht notwendig gescheiter oder origineller und nicht weniger von persönlichem Ehrgeiz erfüllt als ihre Leser. Viele nachfolgende Kongresse schafften es nicht, diesem Bild neue Farben und Konturen zu geben.

"GrenzenNiederSchreiben" lautet das Motto der Schriftsteller-Konferenz am 9. und 10. Mai

Es zeigt mithin einen gewissen Selbstbehauptungswillen, wenn sich vor Pfingsten in der Berliner Akademie der Künste Schriftstellerinnen und Schriftsteller nun wieder zu einer Konferenz mit explizit politischem Bezug treffen. Sie reden über Europa und greifen damit ein Thema auf, das schon 1988, ein Jahr vor dem Fall der Mauer, und 2014, ein Vierteljahrhundert danach, Anlass zu einer Zusammenkunft unter Kollegen gab. Das Motto lautet diesmal: GrenzenNiederSchreiben – es hat mittlerweile an schrecklicher Aktualität und Bedeutung gewonnen.

1988 war es die Konferenz der Hoffnung auf die Verwirklichung einer Utopie. Ernsthaft glaubte wohl niemand an eine unmittelbar bevorstehende Einigung unseres Kontinents. 2014 spürte dagegen niemand die unmittelbare Gefahr, dass Europa auseinanderbrechen könnte. Im Gegenteil, die erkenntnisleitende Frage lautete: Wie können wir beschleunigen, was allzu langsam zusammenwächst, ohne unseren Eigensinn aufzugeben? Viele Gäste aus der unglücklich so genannten „Peripherie“ Europas zeigten sich dabei neugieriger, aufgeschlossener, tatendurstiger, einfallsreicher als manche ihrer Kollegen aus dem Westen. Das Menetekel eines neuen Rassismus stand erst undeutlich an der Wand.

So viel zur aktuellen Vergangenheit. Jetzt tagen erneut 29 namhafte Autorinnen und Autoren aus 29 Ländern, diesmal tragen sie, wie die Schriftstellerin und Mitorganisatorin Antje Rávic Strubel es ausdrückt, „die größeren und kleineren Scherben eines Traums zusammen, vielleicht bringen sie auch Teile eines Stacheldrahts mit.“

Der Publizist Tilman Spengler ist einer der Mit-Initiatoren der Konferenz in Berlin.
Der Publizist Tilman Spengler ist einer der Mit-Initiatoren der Konferenz in Berlin.

© IMAGO

In der Tat fällt es schwer, die Dynamik eines Vorganges zu begreifen, der in so kurzer Zeit zu einer so massiven Umwertung europäischer Werte geführt zu haben scheint. Toleranz? Menschenrechte? Meinungsfreiheit? Solidarität?

Vor dem Regierungspalast in Bukarest rief Weihnachten 1989 eine verzweifelt hoffnungsvolle, empörte Menge: „Wir sind Europa!“ Und heute? „Heute“, sagt Andrei Pleÿu, Philosoph, Dissident, erster Kulturminister seines Landes nach dem Sturz von Ceausescu, „heute sieht ganz Europa bedauerlicherweise immer mehr wie Rumänien aus.“ Wir können getrost auch von anderen Bildern aus der europäischen Vergangenheit reden. Viele, längst als vergessen erhoffte Fratzen aus der Zeit vor 1945 werden heute wieder als Ikonen durch die Straßen getragen. Womit sich eine der fünf zentralen Fragen der Konferenz stellt: Haben wir uns nicht heftig ins große Maul gelogen, als wir den Begriff „europäische Werte“ wie einen Exportschlager anführten? Haben wir verdrängt, nicht sehen und hören wollen, dass auf einem Kontinent, der so viele Kriege im Namen so vieler verschiedener Werte geführt hat, diese Werte auch ein Leben nach ihrem vermeintlichen Tod haben können? Und deren Fürsprecher?

Auch eine Konferenz-Frage: Welche Sprache prägt unsere Öffentlichkeit

Ist das jetzt eine andere Formulierung für: Wir müssen die Sorgen ernst nehmen, die in Dresden und anderswo immer wieder Tausende zum Grölen bringen? Nein, das ist es nicht. Rhetorische Kurpfuscher werden immer Heilsbedürftige finden, ob sie nun Fremdenhass, Gottesbeweise oder Mittel gegen Haarausfall vertreiben. Hier zieht jeder Versuch der Aufklärung den Kürzeren. Wenn in der Konferenz die Frage gestellt wird: Welche Sprache prägt unsere Öffentlichkeit?, wird es vermutlich um andere religiöse Zauberwörter unserer Zeit gehen, den Kampfbegriff „Integration“ vielleicht, dessen tiefer Wortsinn „geistige Auffrischung“ bedeutet, der hierzulande aber als Mittel der Disziplinierung an die Stelle des genauso missbrauchten und schallend bedeutungsleeren Wortes „Wachstum“ getreten ist. Oder aber – siehe oben – um das Wabern von Sprachbildern aus den Gräbern sinnlos geführter Schlachten unserer Vorväter.

Die wirkungsstärksten Sinndeuter unserer Zeit stellen bekanntlich längst nicht mehr die klassischen Fragen nach dem Woher und Wohin des Seins. Diese Visionäre fragen als Investmentbanker nach dem Woher und Wohin des Habens. In diese Kerbe schlägt das Programm der Konferenz mit dem listigen Thema: „Wie viel Zuzug verträgt oder benötigt Kultur?“ Der brave Soldat Schwejk hätte diese Frage seinem Wirt Palivec in genau dieser Form gestellt. Wahrscheinlich wäre er im Sinne der aufgeklärten Ökonomie seiner und unserer Zeit fortgefahren mit: „Und wie viel Abzug verträgt oder benötigt sie?“

29 Autoren sind eingeladen, über Europa nachzudenken

„Du bist deine eigene Grenze, erhebe dich darüber“, lautet der schöne Ausspruch des persischen Dichters Hafis, den die Mitorganisatorin Mely Kiyak zum Motto der Konferenz erklärt hat. Was aber passiert nun, wenn andere die Grenzen ziehen und der Schriftsteller seine Sprache nicht mit auf die Flucht nehmen kann? Was kann europäische Kulturpolitik als der Geist, der stets das Gute sucht und dabei nicht immer erfolglos ist, auch materiell zur Aufhebung der neuen Blockaden beitragen?

Das sind gewiss mehr Fragen, als sie an zwei Tagen beantwortet werden können. Entscheidend ist, dass sie von 29 Köpfen untersucht werden, die sie mit unterschiedlichen Perspektiven, Erfahrungen und Leidenschaften erörtern. „Europa darf nicht verspielen, was wir erreicht haben“, sagt Frank-Walter Steinmeier, erneut einer der Mitorganisatoren. Ricarda Huch nannte das den Kampf gegen „die Gleichgültigkeit der Entkräftung“.

Darf es, um noch einmal an den großen Exilschriftsteller Oskar Maria Graf zu erinnern, auf einer Konferenz auch heiter zugehen? Es darf und es wird. Das letzte Treffen war dafür ein ermutigendes Beispiel.

Tilman Spengler lebt als Schriftsteller und Sinologe in Berlin und in Ambach am Starnberger See. Zuletzt erschien sein Roman „Waghalsiger Versuch, in der Luft zu kleben“ (Berlin Verlag, 2015).

Tilman Spengler

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