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Nachruf: Augusto Boal: Lateinamerikas Bertolt Brecht

Der Mann hatte lockiges Haar wie ein Löwe, große Hände, und wenn er sprach, schien es, als wolle er seine Gedanken auch noch im Großformat auf eine Leinwand malen. Ein Gedenkblatt für Augusto Boal, der am Samstag im Alter von 78 Jahren gestorben ist.

Die Gesten waren das Erste, was mir auffiel, als ich ihn 1993 zum ersten Mal sah. Augusto Boal stand auf einem Platz in Rio de Janeiro, hinter ihm Wolkenkratzer, Hochstraßen, und eröffnete sein internationales Theatertreffen.

Man hörte ihm zu aus scheppernden Lautsprechern, und er erzählte die ganze Geschichte. Wie er während der Militärdiktatur 1971 verhaftet, gefoltert, wieder freigelassen wird und nach Buenos Aires geht, immer in geheimdienstlicher Begleitung. Um Theater zu spielen, muss er „Unsichtbares Theater“ erfinden und macht Vorortzüge, Straßen und Restaurants zur Bühne und die Szenen aus Sicht ahnungsloser Zuschauer zur Realität.

Als die meisten seiner Schauspieler verhaftet werden, flieht er nach Peru. Er beteiligt sich an Alphabetisierungsprojekten und entwickelt in den Slums das „Forumtheater“, Spiel plus anschließende szenische Diskussion, die Zuschauer sollen sich äußern. Was hierzulande beim sogenannten „Publikumsgespräch“ in meist langen Monologen der Produzierenden endet, hat bei Boal Aufstände zur Folge: Ausgebeutete Arbeiter einer Fischfabrik in Chimbote drücken dem Theatermann ein Gewehr in die Hand, um nun die Szenen für die Wirklichkeit zu verändern. Sie erklären ihm, wie man schießt und auf wen man schießen soll.

Danach geht Boal nach Europa und schreibt an seinem Buch „Das Theater der Unterdrückten“, das ihn zum „Brecht von Lateinamerika“ macht. „Ich habe aber immer versucht, Brecht vom Kopf auf die Beine zu stellen und vom Denken ins Handeln zu kommen“, sagte er auf dem Platz in Rio. Kein Wunder, dass man da so riesige Hände und eine Löwenmähne braucht, dachte ich. Boal war schon in seiner Phase des „Legislativen Theaters“; er saß im Stadtparlament und sein größter politischer Förderer hieß Lula da Silva, der heutige Staatspräsident, der damals Oppositionschef der Arbeiterpartei PT war. Boal arbeitete nun halbtags mit dem Theater, die andere Zeit verbrachte er als PT-Abgeordneter.

Ich begleitete ihn ein paar Tage, er probte gerade mit Straßenkindern ein Stück über Todesschwadronen, allein in jenen Wochen wurden 320 Kinder von Polizisten getötet, sie wurden bezahlt von Geschäftsleuten, die wiederum von Politikern gedeckt wurden, ein einziger Sumpf, 4611 tote Kinder in zwei Jahren. Das Stück hieß „Herodes ist nicht gestorben. Er lebt in Brasilien“. Bei den Proben fand Boal heraus, dass die Kinder ihre Mörder meist vorher schon kannten, sie mit wüsten Spitznamen benannten. So erarbeiten sie Streckbriefe und legten sie der Oppositionspartei vor, in diesem Fall: Boal legte sie sich selbst vor, er machte Theater und er suchte für seinen Kampf politische Mehrheiten.

Das letzte Bild, das ich von ihm vor Augen habe: Er steht wieder auf dem Theatertreffen-Platz und berichtet, dass die Kinder aus seinem Herodes-Stück in der Nacht vor der Candelaria-Kirche im Schlaf erschossen wurden. Diesmal konnte er seinen großen Hände nicht mehr bewegen, er saß nur auf einer der Treppenstufen zur Bühne und schwieg, ohne Pathos. Vor ein paar Jahren hörte ich, er habe mit Unterstützung des jetzigen Staatspräsidenten eine Theatergruppe bei der Polizei gegründet. Augusto Boal hatte mittlerweile Leukämie, aber er gab nicht auf, bis zu seinem Tod mit 78 Jahren am vergangenen Samstag.

Moritz Rinke lebt als Schriftsteller und Dramatiker in Berlin.

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