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Kultur: Narziss und Junkfood

FORUM Die US-Indiefilme „Kid-Thing“, „Francine“ und „For Ellen“ entwerfen Psychogramme verlorener Helden.

Sie heißen Annie, Francine und Joby. Die drei kennen sich nicht, und doch gleichen sich ihre Schicksale. Unsicher tasten sie sich durchs Leben. Ihnen fehlen Ordnung und Halt, etwas, das ihrer Existenz Struktur verleihen könnte. Sie driften vor sich hin, da draußen in einem dieser konservativen Hinterlandstaaten der USA. Ungesund sehen sie aus, unmanierlich, ein wenig verwahrlost. Weißes Prekariat am Rande der Verzweiflung.

Annie, Francine und Joby sind die Hauptfiguren aus drei amerikanischen Independentfilmen des Forums: „Kid-Thing“, „Francine“ und „For Ellen“. Alle drei Filme zeichnen Psychogramme verkrachter, verlorener Gestalten. Häufig prägnant. Meist interessant. Und immer mit unklarem Ausgang. Die offene Form ist ein schlüssiges Prinzip der Filme. Denn: Wie sollte man diese kantigen Schicksale zu einem runden Ende bringen, ohne ihnen mit den Mitteln herkömmlicher Dramaturgie Gewalt anzutun? Deshalb weiß man als Zuschauer zum Schluss nie, wie es im Leben der drei weitergeht. Nicht anders dürfte es den Figuren selbst ergehen.

Annie ist zehn Jahre alt, blond und blauäugig. Sie könnte aus einem Astrid-Lindgren-Buch stammen. Und in der Tat: Märchenhafte Elemente gibt es in diesem Film. Doch mit schwedischen Idyllen hat „Kid-Thing“ wenig gemein. Mit ihrem Alkoholiker-Vater, der Crashrennen fährt, lebt Annie auf einer Farm in Texas. Sie isst knallbuntes Junkfood, streunt umher, stiehlt, provoziert und zerstört. Zwischen Annies lustlose Aggressionsattacken schiebt der Regisseur David Zellner pittoreske Landschaftsbilder. Ein seltsamer Kontrast. Als wollte er sagen: So idyllisch könnte es hier eigentlich sein.

Manchmal wirkt das Heruntergekommene ein wenig gewollt. Manchmal zielt Zellner zu deutlich auf eine Kritik der Infantilität amerikanischer Konsumkultur mit ihrer Lust am Thrill und kindlicher Zerstörung. Doch der Film hat auch eine unheimliche Seite. Eines Tages entdeckt Annie eine Öffnung im Waldboden, in dem eine Frau gefangen zu sein scheint. Das schwarze Loch zieht Annie magisch an: Es scheint sie aufsaugen zu wollen.

Wieder in die Welt hinausgeworfen wird hingegen die wortkarge Francine. Jahre im Gefängnis haben ihre Spuren hinterlassen. Ihr Körper ist gezeichnet von Tätowierungen und tiefen Falten. Langsam schnuppert sie sich heran an die Menschen, wie ein scheues Tier. Ihr Name verweist auf den Heiligen Franziskus, der Zwiesprache mit den Tieren gehalten hat. Und Tiere sind es auch, denen sie sich am stärksten öffnen, mit denen sie sich im Schmutz suhlen wird. „Francine“ ist ein abstoßender und zugleich mitreißender Film, der von Brian M. Cassidy und Melanie Shatzky sehr elliptisch erzählt wird. Von Anfang an steht die Frage im Raum: Schafft die fragile Frau die Rückkehr in die normale Welt – oder wird sie an ihr zugrundegehen? Dass wir um Francine bangen, hängt vor allem an der faszinierend zurückhaltenden Melissa Leo, die sich nach Filmen wie „Frozen River“ und „The Fighter“ hier endgültig die Krone der queen of white trash aufsetzt.

Auf eine ganz andere Weise affiziert uns Joby Taylor (Paul Dano): als der möglicherweise größte Kino-Unsympath der jüngeren Zeit. Joby ist der bleiche Sänger einer Rockband: ein hochgradig verantwortungsloser, bindungsunfähiger Narziss voller Selbstmitleid und unsicherer Arroganz. In einer unwirtlichen Winterlandschaft versucht er sich seiner sechsjährigen Tochter anzunähern, nachdem seine Frau die Scheidung eingereicht hat. „For Ellen“, der dritte Spielfilm der in den USA lebenden Koreanerin So Yong Kim, ist weniger stark als die beiden anderen Forum-Independentfilme. Aber auch er enthält bemerkenswerte Momente. So viel Mut zum Antihelden muss man erst mal haben.

„Kid-Thing“: 16.2., 22.30 Uhr (Cubix 9); „Francine“: 15.2., 20 Uhr (Cubix 9), 16.2., 19.30 Uhr (Cinemaxx 4), 17.2., 19.30 Uhr (Cinestar 8); „For Ellen“: 15.2., 14 Uhr (Delphi), 17.2., 22 Uhr (Cinestar 8)

Julian Hanich

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