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Nazivergangenheit: Das Schweigen der Mutter

Liebe zu einem Massenmörder: Gisela Heidenreich erforscht ihre Lebensgeschichte.

Gisela Heidenreich lernt erst mit 19 Jahren ihren Vater kennen, einen SS-Offizier, der mit seiner Familie in einer anderen Stadt lebt und mit Heidenreichs Mutter während des Krieges eine kurze Liaison hatte. Gisela Heidenreich ist 1943 in Oslo geboren. Als sie mit ihrer Mutter erstmals dorthin fährt, ist sie schon über 50. Die Reise nach Oslo wird zum Ausgangspunkt für ihren Bericht „Das endlose Jahr“, der 2002 erscheint. Das Buch wird ein internationaler Bestseller.

Auf Horst Wagner, die große Liebe ihrer Mutter, stößt Gisela Heidenreich noch viel später. 1947 war die Mutter für fast ein Jahr hinter Nürnberger Gefängnismauern verschwunden. Der Tochter erzählte sie später, sie habe dort „dienstlich“ zu tun gehabt. Tatsächlich ist Emilie Edelmann, die für den „Lebensborn“, die Gebärfabrik der SS, gearbeitet hatte, eine wichtige Zeugin im Prozess gegen das SS-Rasse- und Siedlungshauptamt, einen der zwölf Nürnberger Nachfolgeprozesse. Im Gefängnis lernt sie den ebenfalls inhaftierten Horst Wagner kennen.

Wagner, der es in der SS bis zum Standartenführer gebracht hatte, war im Auswärtigen Amt Leiter des Referats „Inland II“ gewesen und unter anderem für die Judenreferenten in den deutschen Botschaften und für die Koordination antijüdischer Maßnahmen zuständig. Er war der Verbindungsführer zum Reichsführer-SS Heinrich Himmler und zugleich Himmlers Verbindungsführer der SS zum Auswärtigen Amt. Solche Doppelfunktionen, die der Koordination der Behörden dienen sollten, waren im „Dritten Reich“ nichts Ungewöhnliches.

Wagner gelang es 1948, aus der Nürnberger Haftanstalt zu entfliehen und in Südamerika, einem Dorado für deutsche Nazis, unterzutauchen. Erst 1967 wurde er wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 350 000 Fällen vor Gericht gestellt. Aber seinen Anwälten gelang es, den Prozess durch immer neue Krankmeldungen und Gutachten zu verschleppen. 1974, drei Jahre vor Wagners Tod, wurde das Verfahren wegen dauerhafter Verhandlungsunfähigkeit eingestellt.

Nach dem Tod ihrer Mutter fand Gisela Heidenreich im Nachlass den umfangreichen Briefwechsel mit Wagner. Darin bekannte die Mutter, die Zeit im Nürnberger Gefängnis sei „die schönste Zeit meines Lebens“ gewesen. Und der geliebte Täter schrieb: „Alles, was war, war richtig, es führte zu Dir.“ Sieben Jahre währte die Liebesbeziehung zwischen „Muttilein“ und „Horstedileinwesen“. 2007 erschien Heidenreichs zweites Buch „Sieben Jahre Ewigkeit“, in dem viele der Liebesbriefe nachzulesen sind.

Diesem geheimen Leben ihrer Mutter blieb Heidenreich auch weiter auf der Spur. Der dritte Band ihrer Trilogie einer Spurensuche, der jetzt vorliegt, stellt im Titel ganz auf den Massenmörder Horst Wagner ab, der beinahe ihr Stiefvater geworden wäre. Im Text geht es aber beileibe nicht nur um den geliebten Täter. Die partielle Rekonstruktion seiner Biografie verbindet sich mit der ausführlichen Schilderung der Recherche, die die Autorin nach Frankreich, Italien, Südamerika und schließlich nach Bayern führt. Und die dritte Geschichte in diesem Buch ist der erneute Versuch einer Annäherung an die Mutter.

In Gisela Heidenreichs erstem Buch „Das endlose Jahr“ findet sich über die Mutter der erschütternde Satz: „Ihre Lügen gehören zu meinem Alltag, seit ich denken kann.“ Heidenreich musste zu ihrer Mutter „Tante Anni“ sagen, weil die ledige Frau in ihrem sozialen Umfeld als kinderlos gelten wollte. Der Vater, der in Wirklichkeit in Frankfurt lebte, war angeblich im Krieg vermisst. Als Heidenreich ins Gymnasium kam – damit beginnt das neue Buch –, bekam sie aus Ersparnisgründen keine neue Schulmappe, sondern eine gebrauchte, die die Mutter mit Schuhcreme aufpoliert hatte. Auf der Innenseite der Klappe stand in großen Buchstaben der Name Horst Wagner. Auf die Frage der zehnjährigen Gisela, was es damit auf sich habe, erklärte ihr die Mutter, das sei ein guter Freund, der überraschend habe ins Ausland fahren müssen.

Emilie Edelmann schickt ihre Tochter jahrelang mit der Aktenmappe eines Massenmörders zur Schule und erklärt ihr, jener sei ein „lieber Freund“, von dem erstaunlicherweise dennoch niemals die Rede war. Die Mutter umgab sich mit einem nahezu undurchdringlichen Lügengespinst, in dem für die Tochter kein Raum war. Deren Auseinandersetzung mit der Mutter ist ein jahrzehntelanger Kampf um die Wahrheit, um die Konstitution der eigenen Lebens- und Familiengeschichte. Und immer, wenn sie der Wahrheit ein Stück näher kommt, setzt die Mutter dem ihr „Des bild’st du dir doch ein!“ entgegen.

Gisela Heidenreich gelingt es, ihren Vater ausfindig zu machen und eine Beziehung zu ihren Halbgeschwistern aufzubauen. Aber das Geheimnis ihrer großen Liebe kann sie der Mutter erst nach deren Tod entreißen. Die langen Recherchen auf den Spuren des nationalsozialistischen Kriegsverbrechers Wagner sind für Heidenreich auch eine Reise zu sich selbst, eine Entdeckung der Welt ihrer Kindheit. Wenn das letzte Kapitel „Vergangenheitsbewältigung“ heißt, so ist damit die eigene Vergangenheit gemeint.

Über Horst Wagner wissen wir inzwischen einigermaßen gut Bescheid, nicht zuletzt durch die monumentale Studie „Das Amt“, die im vergangenen Jahr großes Aufsehen erregt hat. Heidenreich versucht, Wagners Lebensweg zu rekonstruieren und einzuordnen in die Geschichte des „Dritten Reiches“. Das sind nicht die stärksten Passagen. Heidenreich ist keine Historikerin und die einschlägige Fachliteratur ist ihr nur teilweise bekannt. Auch hätte dem Buch ein etwas sorgfältigeres Lektorat nicht geschadet.

Gisela Heidenreich hat sich ihre eigene Lebensgeschichte gegen alle Widerstände angeeignet. Aufgewachsen in einer Gesellschaft, die nicht wahrhaben wollte, was gewesen war, setzt sie sich als Paar- und Familientherapeutin wie als Autorin mit dem „kommunikativen Beschweigen“ (Hermann Lübbe) auseinander. „Das Schweigen der Mütter ist das Leiden der Töchter“ heißt einer von Heidenreichs Aufsätzen. Dafür, dass es ihr gelungen ist, dieses Schweigen zu überwinden, gebührt ihr unser Respekt.

Gisela Heidenreich: Geliebter Täter. Ein Diplomat im Dienst der „Endlösung“. Droemer Verlag, München 2011. 349 Seiten, 22,99 Euro.

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