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Kultur: Neue Töne in der Neuen Welt

Flucht nach Amerika: eine Biografie über die außergewöhnliche Pianistin Grete Sultan.

Das Foto erinnert an ein Pergamentblatt aus der mittelalterlichen Manessischen Liederhandschrift: Wie einst der brandenburgische Markgraf Otto und seine Dame sitzen in den siebziger Jahren auch John Cage und Grete Sultan über ein Schachbrett gebeugt, hochkonzentriert wie sonst nur am Flügel. Fast täglich widmen sich der amerikanische Komponist und die Pianistin, seine „Muse“, dem königlichen Spiel. Richtig gelernt hat es Cage erst von Coba Sultan, Gretes Mutter. Die perfektionierte es wiederum mit ihrem Ehemann Adolf, dem jüdischen Fabrikanten und Musikliebhaber. Musik und Schach, das waren die beiden Konstanten in den großbürgerlichen Häusern im Grunewald, im brandenburgischen Kümmernitz und am Schlachtensee. Das Letztere okkupierte 1935 das Reichssicherheitshauptamt von Reinhard Heydrich.

Die Abbildung findet sich unter vielen anderen in einer Biografie von Moritz von Bredow, der der lange vergessenen Ausnahmemusikerin 2001 in New York erstmals begegnet ist. Hätte es die Nazis nicht gegeben, wäre die junge Musikerin, die in Berlin und in der Schweiz gerade ihre ersten Meriten verdiente, wohl in Berlin geblieben und hätte von dort aus Konzertreisen unternommen. Doch ab 1933 versprengte es die weit verzweigte assimiliert-jüdische Patchwork-Familie Sultan, als deren jüngster Spross Grete 1906 geboren wurde, in alle Welt. Sultan, die ihre Eltern nicht verlassen wollte und nach ihrem Berufsverbot lieber beim Jüdischen Kulturbund unterschlüpfte, gelang es erst 1941 in letzter Minute zu entkommen. Ihre Flucht, aber auch das Schicksal anderer Familienmitglieder, die sich das Leben nahmen oder im KZ umkamen, blieben für sie zeitlebens ein Trauma.

Vielleicht war es die von Kind auf kultivierte Fähigkeit, „nicht zuzuhören, was die anderen sagten“, die sie überlebensfähig machte: „Ich habe Klavier gespielt und mich um nichts gekümmert.“ Schon als Dreijährige wurde Grete Sultan von ihrer älteren Halbschwester Anni und ihrer Tante Lotte am Klavier unterrichtet. Schließlich wird der, wie Lotte bei Theodor Leschetizky ausgebildete, amerikanische Pianist und lebenslange Freund Richard Buhlig ihr Lehrer. Er stellt die Weichen, weil er seiner Klavierschülerin nicht nur die Welt zur Barockmusik eröffnet, sondern auch das Fenster in die Moderne, zu Schönberg aufstößt. Am Konservatorium übernehmen Leonid Kreutzer und Edwin Fischer seinen Part. Bei den Sultans wiederum verkehren junge Künstler, Ernst Krenek, Henry Powell, Arturo Toscanini und Claudio Arrau, aber auch der Maler Max Liebermann. Dort hört das Kind erstmals die Goldberg-Variationen. Später begegnet Grete Sultan auch Hanns Eisler und Adorno.

Das musikalische Who-is-Who, das Grete Sultan begleitet, ist die Achillesferse der von Moritz von Bredow vorgelegten, ansonsten höchst verdienstreichen Biografie. Auf dieser Perlenschnur zieht der in Hamburg tätige Kinderarzt und Autor Sultans Leben auf, Namen, oft in langatmige „Seitenblicke“ eingebettet, bilden die Leitplanken des Erzählten. Denn auch nach der geglückten Flucht in die USA und dem beschwerlichen, oft unterbrochenen Neubeginn als Pianistin sind es Namen, Namen, Namen, die ihren Lebenslauf pflastern.

Das hat zugegebenermaßen biografische Gründe. Ohne ein weit verzweigtes freundschaftliches und hilfreiches Netzwerk wäre Sultan in der Neuen Welt als Künstlerin sicher untergegangen. Doch das ausgedehnte Musiknetzwerk geht zulasten des sozialhistorischen und genderpolitischen Hintergrunds.

Dass Grete Sultan beispielsweise noch einer Frauengeneration angehört, die – Mutter Coba und Tante Lotte als umgekehrtes negatives Vorbild vor Augen –, ihr privates Lebensglück der musikalischen Karriere opfert, bleibt nur angedeutet; auch die zarten lesbischen Beziehungen in Berlin und New York, die „Sisterhood“ am Hudson River, werden benannt, aber oberflächlich ausgeleuchtet. Psychologischer Introspektion verweigert sich diese Biografie, vielleicht aus Respekt vor der 2005 verstorbenen Pianistin. Kenntnisreich und detailfreudig setzt sie dagegen auf die Entwicklung und Durchdringung einer musikalischen Ausnahmefrau, der immer wieder eine außerordentliche Musikalität und Werkdisziplin bescheinigt werden.

Denn was sich in Berlin schon andeutet, bestätigt sich in New York, als Grete Sultan, inzwischen weithin geschätzte Klavierpädagogin und altersmäßig jenseits einer pianistischen Neukarriere, auf John Cage trifft. Die Hörgewohnheiten und die frühe Ausbildung in zeitgenössischer Musik befähigen sie zu einem Repertoire, das sich zwischen den Goldberg-Variationen und dem schwierigen Werk dieses anderen Ausnahmekünstlers, mit dem sie die Suche nach der Stille verbindet, aufspannt.

Als Siebzigjährige startet Grete Sultan als Cage-Interpretin noch einmal eine neue Karriere; fünf Jahre vor ihrem Tod wird ihr, eine späte verschämte Rehabilitation, das Bundesverdienstkreuz verliehen. Dauerhaft zurückkehren, wie es sich Adorno wünschte, wollte die „rebellische Pianistin“, wie er sie nannte, aber nie. Wie viele andere Exilmusiker war auch sie „Hitlers Geschenk an Amerika“.

Moritz von Bredow: Rebellische Pianistin. Das Leben der Grete Sultan zwischen Berlin und New York. Schott, Mainz 2012.

367 Seiten, 29,99 €.

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