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Latente Bedrohungsszenarien. Luciény Kaabral nimmt vorsichtshalber reißaus.

© Oliver Look

Neueinstudierung von Pina Bauschs „Nelken“: Alles andere als ein zartes Pflänzchen

Das Tanztheater Wuppertal zeigt eine Neueinstudierung von Pina Bauschs legendärem Stück „Nelken“. Die Premiere umgibt auch ein Hauch von Nostalgie.

Von Sandra Luzina

Rosa Nelken sprießen auf der Bühne des Wuppertaler Opernhauses. Die rund 800 Kunstblumen wirken täuschend echt. Das Bühnenbild für „Nelken“ war eines der ersten, das Peter Pabst für Pina Bausch entworfen hat – und es wurde eines seiner berühmtesten. Das Tanztheater Wuppertaler zeigt nun eine Neueinstudierung von Bauschs legendärer Choreografie, die 1982 uraufgeführt wurde.

Die Stimme des Opernsängers Richard Tauber erklingt vom Band: „Schön ist die Welt, wenn das Glück dir ein Märchen erzählt.“ Mit der Operettenseligkeit und der rosa Idylle ist es rasch vorbei. Die Tänzerinnen und Tänzer bahnen sich vorsichtig ihren Weg durch das Blumenmeer. Das Tanzen ist kaum möglich auf diesem Grund. Zum Schluss ist das Nelkenfeld zertrampelt – und so mancher Traum zerplatzt.

Reginald Lefebvre steht allein auf der Bühne tanzt das Solo zu Sophie Tuckers Song „The Man Love“, das Lutz Förster einst mit Pina Bausch entwickelt hat. Der Text wird in Gebärdensprache übersetzt. Auch dieses Solo ist berühmt, es ist ein ebenso anmutiger wie witziger Ausdruck einer Liebessehnsucht, die sich wohl nie erfüllen wird. Försters Interpretation des Solos ist unvergessen, aber Reginald Lefebvre ist ein würdiger Nachfolger.

Von der erträumten, erhofften und illusorischen Liebe handelt „Nelken“. Wie so oft hatte Pina Bausch die Probenarbeit mit Fragen und Aufgaben an die Tänzer:innen begonnen. „Etwas über eure erste Liebe.“ – „Wie habt ihr euch als Kind die Liebe vorgestellt?“ – „Zwei Sätze über die Liebe.“ – „Wenn euch jemand zur Liebe zwingen will, wie reagiert ihr da?“ Aus diesem Material, in das viel Persönliches seitens der Tänzer:innen eingeflossen ist, formte sie danach ihr Stück.

Mehr als ein Stück über die Gefährdung der Liebe

Doch beim Wiedersehen ihrer Choreografie fällt auf, dass es in „Nelken“ nicht nur um die Gefährdung der Liebe geht. Es sind vor allem Machtspiele zu sehen, die meist kindisch wirken, aber bisweilen in Brutalität umschlagen. Vier Männer mit Schäferhunden kommen auf die Bühne und überwachen das Nelkenfeld – ein Anblick, der heute wie damals Assoziationen weckt(e). Die übermütigen Aktionen gehen zwar weiter, fünf Männer in bunten Kleidern hoppeln wie Häschen durch das Nelkenfeld. Doch aus Spaß wird Ernst.

Andrey Berezin, der etwas latent Aggressives hat, wird im Laufe des Abends immer wieder auf einzelne Performer zugehen und ihren Pass verlangen. Diese Szenen wirken heute angesichts der aktuellen fremdenfeindlichen Tendenzen immer noch bedrohlich. Einige lässt der Kontrolleur wieder ziehen, andere werden von ihm gedemütigt. Nicholas Losada muss sich hinknieen und ein Gebet sprechen, während Maria Giovanna Delle Donne seine nackten Fußsohlen kitzelt. Simon Le Borne, der ein Kleid trägt, befielt der Peiniger, sich etwas Anständiges anzuziehen. Dann soll er auf Kommando wie eine Ziege meckern, wie ein Hund bellen oder wie ein Papagei krächzen.

Virtuose Soloperformances wechseln sich in Silvia Farias Heredias und Eddie Martinez’ Inszenierung ab mit hinreißenden Revue-Formationen.

© © Uwe Stratmann/Uwe Stratmann

Männer, die Frauenkleider tragen, sah man oft in den Stücken von Pina Bausch. Es ist mehr als Travestie: Bausch hat immer wieder die Geschlechterrollen hinterfragt. Heute gehört auch eine trans Darstellerin zum Wuppertaler Ensemble, die selbstverständlich die Frauenparts tanzt. Damit war das Tanztheater ein Vorreiter in der Tanzszene. Die Brasilianerin Naomi Brito ist mittlerweile ein Star. Hier läuft sie in Männerhose und Stöckelschuhen durch das rosa Nelkenfeld, ein Akkordeon vor der Brust.

Es ist eine der schönsten Szenen aus „Nelken“, die sie mit ihrer somnambulen Anmut zum Leben erweckt. Brito zeigt dann, wie man die vier Jahreszeiten in Gebärdensprache übersetzt. Frühling, Sommer, Herbst und Winter – das ganze Ensemble läuft dann in einer Reihe und wiederholt die Bewegungen. Andere Ensembleszenen in „Nelken“ erinnern an Revue-Formationen. Einmal sitzen 13 Tänzer:innen nebeneinander und schaukeln auf ihren Stühlen. Ein eindrucksvolles Bild. Doch wenn alle schreiend über die Bühnen rennen, fehlt es an emotionaler Wucht.

Das Ensemble steht kurz vor der Revolte

Auch die Rolle des Tänzers thematisieren Silvia Farias Heredia und Eddie Martinez in ihrer Neueinstudierung. Nicolas Le Borne führt eine Reihe von virtuosen Sprüngen und Drehungen aus. Er knallt sie dem Publikum, das immer neue Kunststücke erwartet, regelrecht vor die Füße. Julian Stierle droht damit, sich in die Kantine zu verdrücken. Sie wollen keine Tanz-Marionette sein. Doch zur Revolte kommt es nicht. Am Ende tritt jeder Einzelne hervor und verrät, warum er Tänzer geworden ist.

„Nelken“ kreist um die Ambivalenz von Gefühlen. Es ist aber auch ein von Erinnerungen umranktes Stück, einige Szenen prägen sich wie kostbare Vignetten ins Gedächtnis ein. An diesem Abend ist auch eine gewisse Nostalgie zu spüren. Von der älteren Tänzergeneration sind noch Andrey Berezin und Aida Vainieri dabei. Die jüngeren Tänzer müssen in die Rollen, die für andere kreiert wurden, noch hineinwachsen. Einige von ihnen wirken eher blass, die eigene Persönlichkeit einzubringen gelingt ihnen nicht. Das lässt diese „Nelken“-Adaption etwas flacher und harmloser erscheinen.

Doch Tänzer:innen wie Naomi Brito oder Nicolas Le Borne eignen sich die Rollen an und fügen eigene Facetten hinzu. Das stimmt hoffnungsvoll für die Truppe, die seit 2022 von dem französischen Choreografen Boris Charmatz geleitet wird. Ihm muss ein Spagat gelingen: neue Werke kreieren und zugleich das Erbe von Pina Bausch lebendig halten. Im März gastiert das Tanztheater in Berlin mit dem Programm „Club Amour“, das neben Bauschs „Café Müller“ auch zwei frühe Werke von Charmatz umfasst. Im Juni folgt mit „Viktor“ die zweite große Neueinstudierung in dieser Spielzeit. Es ist die 50. Spielzeit – und die Zeichen stehen auf Umbruch.

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