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Land am Abgrund: Anhänger des gestürzten Präsidenten Mursi demonstrieren in Kairo.

© Reuters

Neuer Roman von Chalid al-Chamissi: Ägyptens Lebenswirklichkeit

Chalid al-Chamissi ist mit seinen Geschichtensammlung "Im Taxi" bekannt geworden. Sie wurde als „Buch zur ägyptischen Revolution“ gefeiert. In seinem neuen Roman „Arche Noah“ erzählt der Schriftsteller Fluchtgeschichten.

Bevor Noah seine Arche baute, hatte Gott sich ihm offenbart. Die Welt werde in einer Sinnflut untergehen, aber Noah sei auserwählt, sich mit seiner Familie zu retten und Paare aller Tierarten mitzunehmen. Eine solche Warnung brauchen die Figuren nicht, die der ägyptische Schriftsteller Chalid al Chamissi in seinem Roman „Arche Noah“ versammelt. Der Untergang ist nahe, das erfahren sie tagtäglich. Die Wirtschaft liegt am Boden, die Korruption schreit zum Himmel, sie fürchten Islamisten und Geheimdienstler. „Dieses Land liegt im Sterben“, sagt einer. „Du musst raus hier, je früher, desto besser.“

Also machen sie sich auf den Weg, zu Land, zu Wasser und in der Luft. Die Familie der Ärztin Nivin Adli hebt am 15. Juli 2005 mit einer Maschine der Air France vom Flughafen Kairo ab. Sie wollen in Montreal eine mögliche Auswanderung vorbereiten. Am selben Tag geht ein Boot voller ägyptischer Flüchtlinge im Mittelmeer unter. Die meisten sind Bauern, die das Meer nie mit eigenen Augen gesehen haben, sondern nur von Fotos und Filmen kennen. Zu den wenigen Überlebenden gehört der Dorflehrer Jassin al Barudi, der in einem Spezialgefängnis des libyschen Grenzschutzes landet. Einige Monate später sitzt er der aus Kanada zurückgekehrten Adli in ihrer urologischen Praxis gegenüber. Er will ihr eine Niere verkaufen, um den Schleuser für den nächsten Fluchtversuch bezahlen zu können.

Chalid al-Chamissi ist mit seiner Geschichtensammlung „Im Taxi“ bekannt geworden. Als die Texte 2011 in einer deutschen Ausgabe erschienen, wurden sie als „Buch zur ägyptischen Revolution“ gefeiert. Der 1962 geborene Schriftsteller hatte sich in der Endphase des Mubarak-Regimes mit Dutzenden Taxifahrern in Kairo unterhalten und daraus das Panorama einer Gesellschaft am Rande des Aufruhrs erschaffen. Sein neuer Roman, der in Ägypten 2009 herauskam, knüpft an dieses Prinzip an. Aber diesmal geht es nur um elf Protagonisten, ihre Geschichten schweifen weiter ab. Und alle Episoden sind miteinander verknüpft, wie in einem Reigen reichen die Figuren einander für die nächste Szene die Hände.

Es beginnt als Parade der Taugenichtse, Tagträumer und Trantüten. Achmad wollte Staatsanwalt werden, ist aber nach seinem Jurastudium schon als Handlanger eines Anwalts gescheitert. „Das Leben hier in Ägypten“, weiß er, „sieht so aus: keine Arbeit, kein Geld, keine Ferien, keine Freiräume. Durch Satellitenschüsseln und das Internet werden wir vollgepumpt mit Bildern vom schönen Leben draußen. Wir wollen auch so leben.“

Der Weg nach draußen führt für ihn über einen Park, in dem er sich von seiner Freundin trennt, schnurstracks in ein Cybercafé. Im Internet lernt er eine Amerikanerin kennen, die in New York Models ausbildet und sich Elisa nennt. Wenn sie ihn heiratet, bekommt er ein Visum. Die Cybercafés sind voller solcher Achmads, Jassirs und Salachs, ihre Zielgruppe: reife westliche Frauen zwischen 35 und 45, „vorzugsweise durchschnittlich hübsch bis unansehnlich“.

Achmads Freundin Hagar, eine hingebungsvoll Liebende, ist nach der Trennung traumatisiert: „Alles klang in ihren Ohren nur noch wie ein Miauen.“ Die Familie verkuppelt sie mit einem Geschäftsmann, der in New Jersey das Restaurant „Aladin“ betreibt. Hagar legt den 15-stündigen Flug im Hochzeitskleid zurück, zermartert vom „neuen Nahostproblem“: Wie wird sie mit einem Mann, der ihr gleichgültig ist, schlafen können? Die Lösung: eine „Glückspille“.

Der Koch des „Aladin“ hat die USA nach einer Odyssee durch halb Südamerika, teilweise auf einem Esel durch von Kokainbanden beherrschte Gebiete reitend, illegal über die mexikanische Grenze erreicht. Und der Sohn seines Chefs ist der Prototyp eines poor rich kids, ein wohlstandsverwahrloster, auf eine Londoner Privathochschule abgeschobener Kiffer, der „alle Gegensätze des Dies- und des Jenseits“ in seiner Person vereint, somit „ein waschechtes Kind der Kairoer Gesellschaft“.

Al-Chamissi erzählt sprunghaft und satirisch zuspitzend, oft kippt das Grauen in die Groteske. Es gibt reichlich melodramatische Verwicklungen und schöne, fremd anmutende Metaphern, den „Engel des Schlafes“ oder die Beschreibung einer jungen Frau: „Sie war ein Topf voll schwarzem, nach Orangenhain duftendem Honig.“ Aber in diesen an tausendundeine Nacht erinnernden Geschichten scheint immer wieder die Lebenswirklichkeit eines Landes auf, das auch nach dem jüngsten Militärputsch gegen den Präsidenten Mursi und seine Islambrüder nicht zur Ruhe kommen wird.

Ein Philosophieprofessor wird von Geheimdienstlern drangsaliert. Eine Ärztin, als Koptin zur christlichen Minderheit gehörend, erlebt wachsende Diskriminierung, ihre Tochter wird sexuell belästigt. Zur Ausreise kann sie sich noch nicht durchringen. „Das ist mein Land. Die Geschichte meiner Vorfahren reicht Tausende von Jahren zurück. Wie soll ich da einfach verschwinden?“

Es ist die Kunst von Chalid al-Chamissi, so von Menschen zu erzählen, dass sie dem Leser plastisch vor Augen treten. Doch es sind literarische Geschöpfe. Die Figuren der letzten Episode hat er dem Werk seines Landsmanns, Nobelpreisträger Nagib Machfus, entnommen.

Chalid al-Chamissi: Arche Noah. Roman. Aus d. Arabischen v. Leila Chammaa. Lenos Verlag, Basel 2013, 407 S., 22,50 €

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