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Er ist wieder da. Stalin-Fans demonstrieren mit roten Fahnen in Moskau, 1. Mai 2010. Seit einigen Jahren erlebt der Stalinkult in Russland eine neue Blüte.

© REUTERS

Neuer Roman von Ismail Kadare: Das weiße Rauschen der sowjetischen Propaganda

Er ist der bedeutendste Gegenwartsschriftsteller Albaniens. In „Die Dämmerung der Steppengötter“ erzählt Ismail Kadare vom Moskau der Nach-Stalin-Zeit. Ein Roman von frappierender Aktualität.

Im Oktober 1958 muss es in Moskau extrem kalt gewesen sein. Spät erst wird es hell, müde wälzen sich die Menschenmassen über die gewaltigen Boulevards. Der damals 22-jährige Albaner Ismail Kadare war in seiner Heimat bereits als talentierter Lyriker aufgefallen und studierte zwei Jahre lang am Literaturinstitut Maxim Gorki. Das bedeutete eine große Auszeichnung, verbunden mit Ferienaufenthalten in staatlichen Erholungsheimen für Schriftsteller.

Ismail Kadares schmaler, dabei höchst kondensierter Moskau-Roman „Die Dämmerung der Steppengötter“, der jetzt erstmals auf Deutsch vorliegt, beginnt mit einem maritimen Prolog am lettischen Ostseestrand. Der junge, deutlich autobiografisch gezeichnete Ich-Erzähler verbringt regnerische Sommerwochen im Ferienort Dulbuti nördlich von Riga, bevor es zurück nach Moskau geht. Er ist der einzige Ausländer unter lauter betagten Honoratioren, die unter Schlaflosigkeit und allerlei Zipperlein leiden und sich gegenseitig ihre Werke zueignen.

Von der sonnigen Adria verwöhnt, empfindet der Albaner die Ostsee als „kalte, abweisende Wassermasse mit ihrem nördlichen Rauschen“. Auch sein Flirt mit einer Einheimischen ist von den Erinnerungen an die platinblonde Lida Snegina überschattet, mit der ihn am Studienort eine von Missverständnissen getrübte Liebschaft verbindet. Bei Beziehungen zu Ausländern aus einem „abgelegenen Land“ müsse man ständig damit rechnen, dass diese plötzlich wortlos verschwänden, hatte ihm Lida am Bahnhof verkündet.

Der kontinentale Groll russischer Männer

Ausländer sind für die Sowjetbürger, denen der Albaner begegnet, nur als Angehörige ihres gigantomanischen „Vaterlandes des Weltproletariats“ vorstellbar. Mit dem geschärften Sensorium des Außenseiters entlarvt Kadare die allseits geforderte internationale Solidarität als hohle Phrase und darüber hinaus latenten Rassismus: „Ich wusste inzwischen, dass Sowjetmenschen nicht anders konnten, als die Bewohner anderer sozialistischer Länder mit den Bürgern ihrer eigenen sechzehn Republiken zu vergleichen. Waren die Fremden hellblond, sahen sie aus wie Letten oder Esten, hatten sie eine gebogene Nase, wie Georgier, und wenn sie melancholisch dreinschauten, wie Armenier. Und so fort.“

Mit dem Ende der Ferien verdüstert sich diese Tendenz für den Studenten, die er als „das leise Grauen in meinen Moskau-Träumen“ antizipiert. Das verleiht dem fünfteiligen Roman eine untergründige, bedrohliche Spannung. Zwar herrscht unter dem KPdSU-Generalsekretär Nikita Chruschtschow offiziell politisches Tauwetter, doch Enver Hoxhas Regime in Albanien widersetzt sich der „Entstalinisierung“. Das Klima zwischen den „Bruderstaaten“ kühlt sich daraufhin merklich ab. Der albanische Botschaftsrat ermahnt seine Landsmänner, sich den Russinnen gegenüber respektvoll zu verhalten. Für den Ich-Erzähler hätte es dieser Aufforderung gar nicht bedurft: „In diesem ungeheuer großen Land, in dem der männliche Groll so kontinental war wie der Winter, waren es meistens junge Frauen, die dem Fremden beistanden, das wusste ich.“

Lenin loben, um Stalin eins auszuwischen

Mit beißender Schärfe und zugleich mit höchst poetischen Metaphern schildert Ismail Kadare das Institutsleben in der „siebengeschossigen Sahara“ vom „großen Sujet-Erbrechen“ der Jungliteraten über ihre Saufgelage mit den „weißrussischen Jungfrauen“, die beide Eigenschaften wohl gar nicht aufweisen, bis hin zu den Erfordernissen des sozialistischen Realismus und der allgegenwärtigen Bespitzelung. „Ich merkte, dass ich mich in einen Rausch der Lenin-Überhöhung hineinredete. Diese war gerade in Mode. Ein Studienkollege hatte einmal gesagt, Lenin zu loben, sei die sicherste Methode, Stalin eins auszuwischen.“

Damit bereit Kadare den atmosphärischen Boden für die dramatische Wende: die Stockholmer Nachricht vom Oktober 1958, dass Boris Pasternak der Literatur-Nobelpreis für seinen als „antisowjetisches Machwerk“ geltenden Roman „Doktor Schiwago“ zuerkannt worden sei. Gleichzeitig und ebenso unberechenbar wie der frühe Schnee bricht eine Propagandaschlacht über die Sowjetunion im Allgemeinen und die Kaderschmiede Gorki-Institut im Besonderen herein.

„Ich war allein an einem Nachmittag, der sich anfühlte wie die späte Nacht, und hörte einem Radiosender zu, der ohne Unterlass zweiundzwanzig Millionen Quadratkilometer mit Schimpfattacken überzog, also ein Sechstel der Erde. Die sowjetische Propaganda erinnerte mich an das furchteinflößende Haupt aus der slawischen Mythologie, das mitten in der Steppe die Backen aufblies, um einen Sturm zu erzeugen.“

Fast hätte Kadare die Schriftstellerei aufgegeben

Ob er einen regimetreuen Kommilitonen beschreibt, dessen Anzug-Karos ihn „umschlossen wie ein Netz aus Hass“, oder sich über das „verwaschene, biedere Rot dieser so langen wie langweiligen Kremlmauern“ mokiert: Kadares scharfsinnige Moskau-Beobachtungen, die erst 1998 ungekürzt in Albanien erscheinen konnten, sind in diesen re-ideologisierten Zeiten von frappierender Aktualität.

Fast hätte der Autor unter dem Eindruck der Hexenjagd auf Pasternak die Schriftstellerei aufgegeben, schreibt sein Übersetzer Joachim Röhm im Nachwort. Die deutsche Übertragung ist exquisit und macht die Lektüre dieses politischen Liebesromans zum melancholisch-ironischen Hochgenuss. Hoffentlich trägt „Die Dämmerung der Steppengötter“ dazu bei, Ismail Kadares Ruhm als bedeutendster albanischer Gegenwartschriftsteller endlich auch hierzulande, wo er noch nie einen Preis erhalten hat, durchzusetzen.

Ismail Kadare: Die Dämmerung der Steppengötter. Roman. Aus dem Albanischen von Joachim Röhm. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2016. 207 Seiten, 20 €.

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