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Kultur: Neuköllner Oper: Schraubenzieher ins Herz

Die sechs aus der Clique waren einst der Schrecken der Oranienstraße. Inzwischen sind sie in den besten Jahren, genau wie das Publikum der Neuköllner Oper, haben geheiratet und es zu Ansehen und Geld gebracht - oder eben nicht.

Die sechs aus der Clique waren einst der Schrecken der Oranienstraße. Inzwischen sind sie in den besten Jahren, genau wie das Publikum der Neuköllner Oper, haben geheiratet und es zu Ansehen und Geld gebracht - oder eben nicht. Während Johannes seiner Frau Caro 8000 Mark netto nach Hause bringt, säuft sich der Verlierer Boris um den Verstand und prügelt seine Frau Biggi. Die verlässt ihn und flieht zu Cliquen-Freundin Käte, die sich inzwischen von den Männern ab- und ihrer Freundin Eva zugewandt hat. Auch Caro hält die Besitzansprüche von Johannes nicht mehr aus und rennt weg, ausgerechnet zu Verlierer-Boris, der ihr in wilder Liebesnacht einen Knutschfleck macht. Daher der englische Titel "love bite".

Fidel geht es durch die Betten, Sex ist eben doch der Motor für fast alles, was wir einander antun. Kommen die alten Paare wieder zusammen? Finden sich neue? Das scheint zunächst das Thema von Peter Lunds neuestem Werk zu sein. Originell zitiert Choreographin Nicola Wendt Versatzstücke amerikanischer Musicaltänze, um dieser geschlossenen Gesellschaft Schwung zu verleihen. Das gelingt ihr in einem virtuosen Tennisballett mit dem gesamten Ensemble ebenso wie in einem Duell-Pas-de-deux zwischen Boris (Christof Schmid) und Johannes (Björn Breckheimer). Höhepunkt des Abends ist jedoch, wenn zum Refrain "Auf deiner Klingel steht Single" veritable Cowboys die zögernde Biggi (Ina Nadine Wagler) umkreisen.

Wie in jedem guten Musical wird in diesen Szenen mit Klischees jongliert, Sentimentales nur für Momente erlaubt. Doch Textdichter und Regisseur Lund will mehr. Die Ausgangslage der zerbrechenden Clique will er zur Versuchsanordnung ausbauen, einer Art moderner "Così fan tutte". Wahrscheinlich sollte ein ähnliches Szenario entstehen über sozialen Druck in einer geschlossenen Gesellschaft, über Manipulierbarkeit und das Scheitern von Lebensentwürfen. Zum Finale liegt Boris im eigenen Theaterblut, von Caro mit einem Schraubenzieher erlegt, und gleich mehrere Frauen verabschieden sich in den Wahnsinn.

Das geht schief, denn hier sind die Pathosformeln leider ernst gemeint. Wenn Johannes seiner Biggi den Schraubenzieher als Unterpfand immer währender Liebe überreicht, hat das noch grotesken Charme. Der Einsatz als Mordinstrument bleibt jedoch völlig unmotiviert. Überhaupt ächzt die musical comedy unter der thematischen Last von Gewalt, Alkoholismus, Wahnsinn und Abhängigkeit. Auch Wolfgang Böhmers bewährt schmissige Songs täuschen nicht über die dramaturgischen Schwächen hinweg.

Caros kleiner Bruder Philipp (herausragend getanzt und gesungen von Felix Rademacher) ist übrigens schwul, und das ist wahrscheinlich wirklich gut so, denn er kann sich als einziger aus den Gruppenzwängen heraushalten. Vielleicht ist das die sorgfältig versteckte Botschaft von "love bite": Wer einigermaßen glücklich sein will, muss sich dem gesellschaftlichen Druck konsequent entziehen.

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