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Europas Ende. Grenzbefestigung bei Melilla, der von Marokko umgebenen spanischen Exklave in Afrika.

©  realfictionfilme

Nikolaus Geyrhalters "Abendland": Faszinierende Film-Doku: Europa bei Nacht

Von England bis Italien, von Spanien in die Slowakei: Der Dokumentarfilmer Nikolaus Geyrhalter reist in "Abendland" durch Nachtwelten des Kontinents.Bilder einer nach außen abgeschotteten, nach innen engen Welt.

Kurz vor Schluss durchfährt eine gleißende Zickzacklinie das Bild. Für einen Moment glaubt man einen Blitz oder einen Lavastrom im nachtschwarzen Gelände zu erkennen, irgendein flüchtiges Naturphänomen, nicht von Menschenhand gemacht. Doch Nikolaus Geyrhalters Kamerablick insistiert, alle Episoden seines Dokumentarfilms „Abendland“ halten die Dauer aus, die man braucht, um unbekannte Wirklichkeiten in all ihrer Surrealität zu erfassen.

Die leuchtende Szenerie erweist sich als massiver, technisch hochgerüsteter Grenzzaun. So also sieht bei Nacht Europas stacheldrahtbewehrtes Ende aus: die Grenze bei Melilla, der spanischen, von Marokko umgebenen Exklave auf dem afrikanischen Kontinent. Der österreichische Filmemacher beobachtet eine Patrouille, die trotz Alarm keine Regung ausmacht, weder an dem endlosen, hell erleuchteten Doppelzaun noch im dunklen Küstengewässer.

Geyrhalter greift die atmosphärischen Resonanzen des alten Begriffs „Abendland“ auf und begibt sich, dem Wortsinn folgend, auf Reisen durch die Nacht, um parallele und gleichzeitige Welten Europas zu erkunden. Er registriert Endpunkte, Haltepunkte, Zwischenstationen, auch das Außer-sich-Sein von Partygängern in den allnächtlichen Routinen des Lebens. Im abgedimmten Modus der Spätschicht stellen sich – so die suggestive Ausgangsidee – die vielleicht wesentlichen Momente schärfer dar. Bei Dreharbeiten zwischen 2008 und 2010 zeichnet er charakteristische Nachtaktivitäten in der Slowakei, England, Italien, Deutschland, Österreich, der Schweiz, den Niederlanden und Spanien auf – jede Episode in der persönlichen Handschrift, die den Kameramann und Dokumentarfilmautoren Nikolaus Geyrhalter auch früher schon auszeichnete. Stets aus respektvoller Distanz gefilmt, sind seine Beobachtungen von ruhiger Achtsamkeit geprägt und erschließen sich ohne Kommentar. Statt Protagonisten herauszustellen, zeigt er Menschen zusammen mit anderen, als Arbeiter in ihrem Umfeld, vor allem im Umgang mit technischen Apparaturen jeder Art. Wie Mensch, Maschine und Chemie in der industriellen Lebensmittelproduktion voneinander abhängen, zeigte der kritische Chronist in „Unser täglich Brot“; „Abendland“ nun macht die existentielle Dimension unserer technischen Zivilisation schmerzhaft deutlich, wenn eine Nachtschwester ein vollkommen verkabeltes Frühchen versorgt und wie eine Drahtpuppe zurechtbiegt, und in einer anderen Episode die Arbeiter eines Krematoriums Särge für den vollautomatischen Ablauf vorbereiten.

Die eigentümlich faszinierende Melancholie von „Abendland“ verdankt sich der Konzentration des Filmemachers (und seines kongenialen Dramaturgen und Schnittmeisters Wolfgang Widerhofer) auf Innenräume, kaum bekannte Zonen, in denen Kontrolle, automatengestützte Produktivität und absurde Sicherheitstechnologie ihre mächtige Routine entfalten. Nikolaus Geyrhalter führt seine Kamera derart konsequent ruhig und präzise, dass der Eindruck eines zunehmend gleichförmigen Binnenraums unabweisbar wird.

„Abendland“ dringt von den Grenzen ins Herz vor und zeigt, wie sich der Kulturraum Europa immer stärker zur Festung hin abschottet. So nimmt ein Wachsoldat an der grünen Grenze zwischen Slowakei und Ukraine an seinem Monitor wahr, dass sich draußen „etwas Warmes“ bewegt hat, das Alarm auslöst. In London zoomen übernächtigte Polizisten ihre Überwachungskameras stumm auf die üblichen Verdächtigen, in der Schweiz erklärt eine junge Dame einem abgewiesenen Asylbewerber im Tonfall einer Dienstleistung, warum er besser freiwillig in sein Herkunftsland zurückkehrt.

Was bewirkt die müde, ängstlich und überkomplexe Zivilisation im emotionalen Haushalt derer, die „drin“ sind? Nikolaus Geyrhalter brennt Bilder von dunkler Poesie ins Gedächtnis, indem er winzige Gesten der Zuwendung festhält oder aber mit der Kamera mitten hinein gleitet in die Menge motorisch aufgekratzter Festbesucher. Ob im Bierzelt auf der Wies’n oder bei einem Rave in den Niederlanden, ein hysterischer Druck scheint sich Luft machen zu müssen.

fsk, Hackesche Höfe, Tilsiter Lichtspiele

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