zum Hauptinhalt

Kultur: Norm contra Eigensinn - Nicht (N)Ostalgie wird gefördert, sondern Nachdenken

Für 1952 liegt ein Föhn aus; man liest: "Verheiratete Frauen erhalten monatlich einen bezahlten Hausarbeitstag". Für 1968 sieht man das Rezeptbuch "Goldbroiler & Ei"; dazu heißt es: "Eine Neuzüchtung kommt in die Geschäfte und wird Furore machen.

Für 1952 liegt ein Föhn aus; man liest: "Verheiratete Frauen erhalten monatlich einen bezahlten Hausarbeitstag". Für 1968 sieht man das Rezeptbuch "Goldbroiler & Ei"; dazu heißt es: "Eine Neuzüchtung kommt in die Geschäfte und wird Furore machen." 1973 wird durch das Kondom "exklusiv" vertreten: "Die Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Berlin bieten Anlaß zu vielfältigen Begegnungen". Drei Beispiele aus einem abwechslungsreichen "Jahresreigen" der vorläufigen Dauerausstellung des "Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR" in Eisenhüttenstadt. Gegenstände aus 40 Jahren - vom Liederbuch mit Nationalhymne von 1949 bis zum Prager Stadtplan von 1989, der auf den Exodus via Botschaft anspielt -, lakonisch bis witzig kommentiert, stimmen auf einen Überblick über das Leben in der untergegangen DDR ein.

1993 hatte Eisenhüttenstadt, die erste und einzige sozialistische Musterstadt auf deutschem Boden, den Aufbau dieses Zentrums beschlossen. Ende 1995 zog die Ausstellung "Tempolinsen und P" - später im Berliner Kreuzberg Museum zu sehen - eine erste Bilanz. Inzwischen fand die Eröffnung von "Fortschritt, Norm und Eigensinn. Erkundungen im Alltag der DDR" statt.

Versucht wird, "eine Perspektive auf das Innere einer Gesellschaft und deren Funktionsmechanismen" zu geben, wie Leiter Andreas Ludwig im Begleitbuch der Ausstellung schreibt. Was bisher in (stadt)geschichtlichen Museen nur en passant oder regional vorgeführt wird, hier steht es im Zentrum. Schon mit der Wahl des Ortes ist dem früheren Direktor von Heimatmuseum Charlottenburg und Stadtgeschichtsmuseum Eisenhüttenstadt ein bemerkenswerter Coup gelungen: Die Sanitäranlagen des ehemals zur Betreuung von Kindern genutzten Gebäudes werden unter dem Stichwort "Kindergrippe" gleich in die Ausstellung miteinbezogen. Auch Fensteröffnungen zwischen Räumen sind erhalten geblieben und bieten Durchblicke. Gleich neben der Kinderkrippe geht es um die von der FDJ seit 1957 herausgegebene Kinderzeitschrift "Bummi": Der Bär gleichen Namens sollte die Kleinsten in die sozialistische Gemeinschaft einführen. Auch die Jugend galt es, an den Staat zu binden. Ein weiterer Raum zeigt Unterrichtsmaterialien für Schule, polytechnische Ausbildung und Wehrerziehung. Den prägenden Erfahrungen der Weltjugendfestspiele gehen vergleichend Bild-, Text- und Tondokumente aus den Jahren 1951 und 1973 nach.

Auch kleinste Objekte wie zum Beispiel Briefmarken können es in sich haben. An ihnen werden "Die Macht und ihre Symbole" demonstriert. Beim Kapitel Kalter Krieg steht Berlin im Zentrum, von den Ein- und Ausreiseformularen der Westler bis zum Begrüßungsgeld der Ostler. Unter dem Motto "Sieben Kinderwagen, drei Berufe und ein Ehemann" wird vor allem die Sozial- und Geschlechterpolitik der DDR beleuchtet, "Blumen für die Hausgemeinschaft" verweist auf die Konflikte zwischen der geforderten kollektiven Norm und dem praktizierten individuellen Eigensinn. Auch Industrie, Handel und Versorgung werden in Rauminstallationen vorgeführt. Rund 500 Objekte kommen insgesamt zur Ansicht. Nicht (N)Ostalgie wird gefördert, sondern Nachdenken - ohne Zeigefinger, bisweilen gar unterhaltsam.Eisenhüttenstadt, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Erich-Weinert-Allee 3, bis 29. Oktober. Dienstag bis Freitag 13-18 Uhr, Sonnabend/Sonntag 10-18 Uhr. Begleitbuch (Ch. Links Verlag, Berlin, 29.80 DM).

Michael Nungesser

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false