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Kultur: Nympho-Mann

Robert Lepage krönt das Andersen-Jahr in Kopenhagen mit einem fabulösen Solo

Dieser Hans Christian Andersen, dessen 200. Geburtstag alle Welt und besonders die Dänen so heftig feiern, war ein hagerer Hüne mit einem ungewöhnlich großen Kopf. Mit einem wahren Pferdegesicht. Er sah aus wie ein Lüstling, und blieb doch wohl immer eine männliche Jungfrau. Der große Mann konnte Kinder nicht leiden und schrieb ihnen bekanntlich die schönsten, die traurigsten Märchen. Auch seine mächtigen Hände taugten im Kleinen gerade zum Feinsten.

Man kann es jetzt auf den mit Feder gezeichneten Miniaturen sehen, die Andersen auf seinen Italien-Reisen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ganz goethisch von Land und Leuten gezeichnet hat: Noch bis zum 12. Juni zeigt das Staatliche Kunstmuseum in Kopenhagen seine opulente Jubiläums-Schau „Hier in Italien. Hans Christian Andersen und das Goldene Zeitalter der dänischen Maler“.

Das Große im Kleinen zeigt auch ein Gesicht, das der Dichter des „Däumelinchens“ mit kaum glaublicher Geschicklichkeit einst in einen Kirschkern geschnitzt hat. Das winzige Porträt kann man nur unter der Lupe entdecken in einer gleichfalls winzigen Ausstellung im früheren Gesindehaus des Kopenhagener Schloss Rosenborg, in der sich originale Manuskripte finden, etwa der Anfang der „Prinzessin auf der Erbse“, nebst Brille, Feder, Reisekoffer (bis 4. 9.).

Am allerschönsten aber vollführt der kanadische Theaterzauberkünstler Robert Lepage das Wunder von groß und klein. „Das Andersen-Projekt“ heißt sein neues Solostück, das nach Voraufführungen in Québec nun als Auftragsproduktion des Königlichen Theaters – und als künstlerischer Höhepunkt des Andersen-Jahres – in Kopenhagen Europa-Premiere hatte. Wie zuletzt in seiner (mittlerweile auch verfilmten) Performance „The Far Side of the Moon“ spielt Lepage in zweieinhalb pausenlosen Stunden rund ein Dutzend Rollen: mit wenigen rollenden, fliegenden Requisiten, mit Hintergrundprojektionen, die manchmal Lepages Blick und Bewegungen folgen und einen theatralischen Cyberspace öffnen, mit blitzschnell wechselnden Kostümen und Perücken.

Die Schwerkraft der Bühne, vor allem die des schwitzend kämpfenden deutschen Gegenwartstheaters, scheint bei Lepage einmal mehr aufgehoben. Und dabei spiegelt das „Andersen-Projekt“ durchaus einen Kampf ums Theater. Das „Projekt“ wird nicht nur im Titel zum Thema. Von Sehnsüchten, Täuschungen, Illusionen. Wir sind inmitten der Stadt, außen firmiert das Königliche Theater, aber Lepage tritt in einer umgebauten Turbinenhalle auf. Dort spielt die Szene in Paris, zunächst in der Nationaloper, im goldprunkend projizierten Théâtre Garnier, in dem auch Andersen bei mehreren Paris-Reisen verkehrte. Allerdings muss Lepage, im Frack und mit der weißblonden Perücke, unter der er sich später in Hans Christian Andersen verwandeln wird, vor dem Publikum eine Premiere absagen.

Wegen eines Streiks des Pariser Reinigungspersonals, weil ein marokkanischer Kollege aus fadenscheinigen Gründen verhaftet wurde. Wie Frankreich, wie Europa mit Einwanderern umgeht, gehört hier immer wieder subtil zum Spiel.

Den Marokkaner wird Lepage später gleichfalls geben – wobei der Mensch in seinem Milieu auf die Funktion reduziert erscheint. Meist fährt nur, wie ein Hexenbesen, sein Gummifeudel aus dem Dunkel durch halb geöffnete Kabinentüren und wischt zur kenntnisreichen Erheiterung (vor allem des männlichen Publikums) über Plastikstühle, Boden und die Wand unter Flimmerschirmen. Da sind wir von der Oper kommend im billigen Pornokino gelandet, in der einschlägigen Rue St.-Denis. Hier wiederum logiert im 1. Stock ein der Rockmusikszene entsprungener kanadischer Nachwuchsautor, der im Auftrag einer EU-geförderten dänisch-französisch-englischen Koproduktion eine Oper für eine Stimme und junges Publikum über Andersens Märchen „Die Dryade“ schreiben soll.

Während der kanadische Künstler als „writer in residence“ nun mit blasierten Pariser Kulturbürokraten und Karrieristen, mit taffen britischen Koproduzenten und idealistisch irritierten Dänen um Verträge, Geld, Technik und platzende Träume kämpft und sich zu konzentrieren sucht, stöhnt und ächzt es unter ihm aus dem schlecht isolierten Sexschuppen 24 Stunden am Tag auf allen Kanälen.

Schon die fabelhaft imaginierten Ortswechsel zwischen Pornokabinen (die sich auch in Telefonzellen verwandeln), Opernhaus, Metro, Parks und Künstlercafé mitsamt einem Kurztrip nach Kopenhagen und in Andersens Geburtsstadt Odense sind eine Schau. Lepage verbindet Hightech mit einfachen Puppenspielertricks; und weil auch ein pillenfressender Hund eine Rolle spielt, gibt es nicht nur eine irrwitzige Szene beim Tierpsychiater, der eher am Sexleben der Hundehalter interessiert scheint; es gibt vor allem das komische Spiel mit der sich in wechselnde Richtungen ausrollenden, zerrenden, verknäuelnden Hundeleine: Lepages Kabinettstück, bei dem es eines realen Tiers nicht bedarf.

Spannend verspinnt Lepage zudem die Zeiten und Motive. Das Märchen von der „Dryade“, einer Baumnymphe, erzählt, wie das Naturkind sein Leben für einen Tag, eine Nacht in der großen Stadt Paris während der wundersamen Weltausstellung von 1867 opfert. Auch Andersen besuchte diesen Triumph der Maschinenwelt, die noch keine Elektrizität kannte. Der Dänendichter blieb so an der Schwelle zur Moderne. Und er blieb als verborgener Homosexueller und darüber buchführender Onanist, der die Paris Bordelle allein zu platonischen Studien besuchte, ein Mann der einsamen, nur in Fantasien erfüllten Sehnsucht. Wie die Männer in den Pornokabinen.

Alles verrinnt so am Ende zu einem Tropfen. Auch die sterbende Nymphe. Und als Tropf, dem die drogensüchtige Freundin in Kanada und das Pariser Projekt abhanden gekommen ist, steht Lepages Künstler da. Doch es ist sein Triumph.

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