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Kultur: Oben ist unten

Christoph Marthalers „Maeterlinck“ im HAU 1

Es ist nur eine Stufe von wenigen Zentimetern, die oben von unten trennt – aber unterschiedlicher könnten die Welten kaum sein. Unten sitzen die Arbeiterinnen und rattern an alten Industrienähmaschinen immer wieder über das gleiche Stück Stoff, ohne dass sich aus den Fetzen Kleidungsstücke ergäben. Oben, auf der Empore, überwachen die Fabrikherren jede Bewegung und geben sich melancholischen Mystikträumen hin. Unten zählt jede Minute im Akkord, oben führt der Müßiggang zu lyrischen Ergüssen über Schönheit und das Leib-Seele-Problem.

Die Machtverhältnisse sind demnach klar verteilt. Doch wir befinden uns in der Theaterwelt des Christoph Marthaler. Und bei dem ist niemand frei – auch die Herren leiden höllisch. Unter manischem Juckzwang. An Stimmimpotenz. An nervösem Gehör. Die Arbeiterinnen brauchen nur ihre Maschinen synchron aufrattern zu lassen – schon zucken ihre Peiniger unkontrolliert mit dem Kopf, schon haben sich die Verhältnisse verkehrt.

„Maeterlinck“ heißt dieser 2007 in Gent uraufgeführte Abend, den die Bühnenbildnerin Anna Viebrock in einen industriellen Sisyphos-Schacht aus dem beginnenden 20. Jahrhundert verlegt hat. Raus kommt hier niemand mehr, auch die Aufpasser nicht. Trost bietet, wie immer bei Marthaler, nur das Ritual der Wiederholung. Und das Musikalische. Wer vor der Aufführung wenig von dem symbolistischen Dichter weiß, der aus Gent kam, in Paris gelebt hat, mit dem Libretto zur Debussy-Oper „Peléas und Mélisande“ bekannt und dem Märchenstück „Der blaue Vogel“ weltberühmt wurde, ist nachher zwar nicht schlauer – aber glücklicher.

Marthaler nimmt biografische Splitter Maurice Maeterlincks (eine Schauspielerin hat ihn nach Paris entführt!), gibt die Grundatmosphäre einiger Stücke (Warten auf den Traumprinzen!), eine Prise Gent (Textilstadt!) und viel eigene Kunst dazu und verwandelt so dümpelndes Auf-der-Stelle-Treten in poetisch-durchpulste Stille. Den kurzweiligen Rest regeln die Musik von Mozart, Satie, Debussy und Purcell und die mal glockenhellen, mal kauzig knödelnden Stimmen des Ensembles von NT Gent und der Tonellgroep Amsterdam.Andreas Schäfer

Noch heute, 19 Uhr 30, im HAU 1.

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