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Kultur: Olympia 2002: "Es wird keine nationalen Orgien geben"

Andrei S. Markovits ist Politologe, Soziologe und Sportfan, er lehrt an der University of Michigan.

Andrei S. Markovits ist Politologe, Soziologe und Sportfan, er lehrt an der University of Michigan. Sein Buch "Offside. Soccer and American Exceptionalism" kommt im Herbst.

Die Organisatoren haben die Winterspiele als "healing games", heilende Spiele, ausgerufen. Ist das nach dem 11. September möglich?

Wir stehen noch unter Schock, sind empfindlich. Die Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt, auf Flughäfen mustern sich Passagiere misstrauisch. Und jeden Abend die Nachrichten. In welchen Ländern herrscht Krieg? Wo ist Osama bin Laden? Was passiert mit dem Schrott des World Trade Center? Das beschäftigt uns, das engt ein. Uns ist die Leichtigkeit verloren gegangen.

Also ist keine "Heilung" möglich?

Salt Lake City 2002 Fotostrecke: Olympische Winterspiele 2002 - erste Impressionen Ich bezweifle, dass uns Olympia wirklich hilft. Sie müssen wissen: Wintersport prägt unsere Gesellschaft nicht. In Amerika zählen die "Big Four", die vier großen Sportarten: American Football, Baseball, Basketball und Eishockey. Deshalb wird es keine nationalen Orgien geben, wenn eine Amerikanerin die Silbermedaille im Biathlon gewinnt. In Deutschland und Österreich sind Skispringen und Skirennen fester Bestandteil der Sportkultur. Dort können olympische Erfolge wichtig für die Seele der Gesellschaft sein.

Was hat der amerikanischen Seele denn nach den Terroranschlägen geholfen?

Zum Beispiel, dass die Baseball-Meisterschaft weiterging. Da tauchte New Yorks Bürgermeister Rudolph Giuliani, eigentlich ein großer Fan der New York Yankees, beim Heimspiel des Lokalrivalen New York Mets auf. Die Fans feierten ihn, die Spieler umarmten sich. Das war unser "healing game".

Also kann der Sport doch Schmerzen lindern?

Natürlich. Am vergangenen Wochenende war Superbowl. Das Endspiel der Football-Meisterschaft ist nationales Symbol, ein patriotischer Tag. Diesmal gewannen die New England Patriots, die Außenseiter. Im Siegerteam standen irische Amerikaner und Italo-Amerikaner. Zu diesen Einwanderungsgruppen gehören auch viele New Yorker Feuerwehrmänner und Polizisten. Joe Andruzzi, Spieler von New England, hatte zwei seiner Brüder eingeladen, die sich aus dem brennenden World Trade Center retten konnten. Als nach dem Sieg Champagner floss, sind alle zu dieser Familie gegangen, auch gegnerische Spieler. "Healing moments" gibt es selten im Sport. Aber wenn, wirkt das auf alle. Zur Siegesfeier der Patriots kamen 1,8 Millionen Menschen - bei zehn Grad Minus.

Bei Olympia ist das nicht zu erwarten?

Nichts ist unmöglich. Ich habe mir bei den Spielen 1980 in Lake Placid eine Karte fürs Eishockey-Halbfinale gekauft. Als ich in die Halle kam, stand die US-Mannschaft auf dem Eis, ein Collegeteam voller Amateure. Auf der anderen Seite die Sowjetunion, die Übermacht im Eishockey. Es war Kalter Krieg, die Sowjets waren in Afghanistan einmarschiert. Dann gewannen unsere Jungs, wir standen fassungslos auf den Rängen und hörten nicht auf zu singen. Seitdem ist das "Miracle of Ice" wichtiger Teil unserer Sportkultur.

Das kann in Salt Lake City nicht passieren?

Nein. Wenn heute die USA gegen die Russen im Eishockey antreten, hat das keine Bedeutung. Politisch gibt es kaum noch Rivalität, sportlich auch nicht. Die ganzen russischen Profis spielen sowieso in unserer Liga.

Fahren Sie nach Salt Lake City?

Nein, in dieser Woche fahre ich lieber nach Detroit zum Basketball.

Das Gespräch führte Robert Ide.

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