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Oper: Alle Macht dem Chor

Volkes Stimme: Christoph Nel und René Jacobs bringen Händels Oratorium „Belshazzar“ auf die Bühne der Berliner Staatsoper. Überwältigend und verstörend.

Die englischen Oratorien von Georg Friedrich Händel sind Theater ohne Bühne, bildsatte Musik für den Kopf, ein Sieg auch der Kunst über die Unzulänglichkeiten des irdischen Bühnenbetriebs. Wer sie auf die Bretter stellen will, muss mit ihrer Dramaturgie etwas hinzufügen können zu dem, was dem musikalischen Drama bereits eingeschrieben ist. Kopfmusik trifft auf Bühnenrealität – das kann ein Theatererlebnis werden, mit Allusionen und herzhaften Brüchen, überwältigend und verstörend.

René Jacobs und Christoph Nel, die Händels Oratorium „Belshazzar“ in der Berliner Staatsoper in Szene setzen, scheinen dafür die ideale Besetzung zu sein. Der Dirigent ein großer Rhetoriker, ein Musiker von sprühender Klangfantasie. Der Regisseur ein psychologischer Verdichter, ein demütiger Arbeiter am Abgrund des Menschen. Dazu Händels Werk, das in der menschlichen Eitelkeit den Motor eines grausamen Welttheaters erkennt: Bluttriefend gieren Staaten nach Größe, bis sie in verblendetem Stolz und moralisch ausgehöhlt hinweggefegt werden von neuen, nach Reichtum strebenden Mächten. Immer so fort schichtet sich Siegessäule auf Trümmerberg. Ein düsteres Geschichtsbild, das Belshazzars Mutter Nitocris schon im ersten Rezitativ aufreißt und uns Wohlstandsverteidigern unbehaglich in den Ohren klingt. Dazu gesellen sich Tyrannenmord und die Befreiung eines unterdrückten Volks, in Babylonien – auf dem Gebiet des heutigen Irak.

Es könnte also wirklich um etwas gehen bei der Geschichte von Nebukadnezar und dem Perserkönig Cyrus, der die uneinnehmbare Festung Babylonien erobern und die dort gefangenen Juden befreien will. Leider weicht Christoph Nel jeglicher Zuspitzung gekonnt aus. Man reibt sich verwundert die Augen: Ist dies der gleiche Regisseur, der in seiner Stuttgarter „Walküre“ eine so schmerzliche Studie über die Wechselwirkung von intimer und öffentlicher Macht gezeichnet hat? Sicher, Nel will kein Zeigefingertheater. Seine Zuschauer mögen die politische Gegenwart im biblischen Stoff selber erkennen. Dafür bieten Händels prachtvolle Chorszenen einen idealen Theaterraum, in dem die immer gleiche Sängerschar sich schlagartig in verschiedene Volksgruppen verwandelt: Aus Gefangenen werden Unterdrücker, aus Unterdrückern Befreier, aus Befreiern Gefangene … Wer beeinflusst dieses machtvoll kreisende Rad der Geschichte, wo liegen individuelle Schuld und Verantwortung?

Man muss das nicht inszenieren wie einst Harry Kupfer, der die gefangenen Juden vor ihrem Abtransport in die NS-Vernichtungslager zeigte. Aber es wäre angebracht, in diesem archaischen Kraftfeld mehr als nur eine visuelle Grundordnung zu garantieren: Juden tragen Kappe, Babylonier Weinlaub im Haar. Bedrohlich agiert diese in ihrer Identität schwankende Masse nie. Auch das restliche Personal verrät nur durch unterschiedlich starke Stilisierung, dass ein Regisseur tätig war. Am dankbarsten greift Kenneth Tarver nach inszenatorischem Halt, verpasst seinem Belshazzar eine halb geckenhafte, halb tierhafte Bühnenpräsenz mit irre weiten Augen. Ein lebender Scherenschnitt, der mit zwei goldenen Schalen hantiert und so Gott lästern will – ein nur schwer nachzuvollziehendes Unterfangen.

Merkwürdig flach klingt zunächst auch René Jacobs’ Händel-Deutung. Es scheint, als habe sich der Dirigent nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit dieser Musik auf ihre eher entlegenen Qualitäten kapriziert. Da ziehen einige sanfte Klangmischungen durch den Zuschauerraum, die man so bei Händel nur selten hört. Doch der rhetorische Impuls, der theatralische Aplomb bleibt schwach. Im ersten Akt klingt die Klimaanlage des Paulick-Saals (für dessen Erhaltung die CDU mit Flugblättern warb) mitunter temperamentvoller als die Akademie für Alte Musik. Das legt sich später, dem Rias-Kammerchor sei Dank. Prachtvoll, agil und wandlungsfähig führen die Sänger Händels Musik zu Macht und Größe, die keinen szenischen Kontrapunkt findet. So ergibt man sich widerstandslos dem Gotteslob: „I will magnify thee!“

Dass zu Religion und Fanatismus sonst nichts weiter gesagt wird, liegt auch an der stimmlich unterdimensionierten Besetzung des Belshazzar und seines Gegenspielers Daniel (Kristina Hammarström). Bewegend die ahnungsvolle, von Wissen und Schmerz erfüllte Königsmutter Nitocris (Rosemary Joshua), während der Abend in dem glühenden, von ekstatischen Kurzschlüssen gefluteten Cyrus Bejun Methas seinen vokalen Helden findet. Für einen „Belshazzar“ auf der Bühne reicht das nicht aus. Doch der Versuch, die Zeichen an der Wand zu deuten, geht weiter: am Freitag im Theater von Halle (Saale). Mene mene tekel u-parsin.

Weitere Aufführungen heute sowie am 6., 7. und 10. Juni. Am 8.6. spricht René Jacobs im Musikinstrumenten-Museum über „Händel-Aufführungen heute“ (11 Uhr).

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