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Panorama: Der Duft der kleinen weiten Welt

Panorama-Filme für alle und über alles: Dokus und Melos, gesamtglobale Aufregerthemen und lokale Hommagen.

Das Globale im Lokalen (und umgekehrt), das Politische im Privaten (und umgekehrt), das Spektakuläre im Unauffälligen (und umgekehrt): Mit einer Wünschelrute, die zur Freude der Macher schön nervös ausschlägt, sucht das Panorama den Erdball nach aufregenden filmischen Novitäten ab und erweist sich einmal mehr als inspirierender Gemischtwarenladen. Es muss nicht immer Mark Zuckerberg und sein „Social Network“ sein: Gleich vier Filme drehen sich ums Internet. In dem polnischen Beitrag Suicide Room und Vampire aus Kanada, mit Jungstar Kevin Zegers in einer Hauptrolle, geht es um Selbstmörderclubs im Netz. Auch Life in a Day aus England und Medianeras aus Argentinien beschäftigen sich mit unserer immer heftiger durchdigitalisierten Wirklichkeit. Solide analog geht es in zwei Filmen zum Thema Migration zu. In Amador des Spaniers Fernando León de Aranoa pflegt eine junge lateinamerikanische Immigrantin, gespielt von der Peruanerin Magaly Solier („La teta asustada“) einen todkranken Mann, und es entwickelt sich eine verblüffende Beziehung. Trotz seines brisanten Themas komödiantisch ist Dernier étage gauche gauche angelegt: Aus dem simplen Anlass einer Pfändung in einem Hochhaus der Pariser Banlieue entwickelt sich eine Revolte seiner nordafrikanischen Bewohner. Explizit berlinisch geht es in einer Reihe von Dokumentationen zu. Britta Wauer widmet sich in ihrem Beitrag Im Himmel. Unter der Erde dem Jüdischen Friedhof Weißensee, und Christoph Rüter begibt sich in Das Wünschen und das Fürchten auf die Spuren des 2001 in Berlin gestorbenen Dichters Thomas Brasch. Sein Film versteht sich als Blick aus naher Freundesperspektive auf einen lebenslang rebellisch unruhigen Geist, der – wie Christa Wolf sagte – „auf dem Messer gehen“ musste, um vorwärtszukommen. Zumindest augenscheinlich einem lichteren Gegenstand ist Peter Dörflers Doku über Rolf Eden gewidmet, Deutschlands mit achtzig Jahren wohl ältesten Playboy. The Big Eden untersucht die Legende eines lebenslang Feierwütigen, der mit sieben Frauen sieben Kinder zeugte. Als kontrapunktische Untersuchung zum Berliner Nachtleben dürfte sich House of Shame von Johanna Jackie Baier verstehen, eine Hommage auf die transsexuelle Queer-Partyveranstalterin Chantal. Auch Rosa von Praunheim ist im Panorama mit von der Partie: Die Jungs vom Bahnhof Zoo geht der Lebensgeschichte von fünf Strichern nach, darunter einem Bürgerkriegsflüchtling aus Bosnien und einem Roma, wobei der Film auch die Lebensverhältnisse und Moral in dessen rumänischem Heimatdorf ausleuchtet: Schwulsein ist zwar igitt, aber wenn der Stricher aus der Fremde Geld nach Hause schickt? Wie immer ist das Panorama mit schwul-lesbischen Beiträgen reich bestückt. Besonderes Augenmerk verdienen dabei zwei Spielfilme, die die Orientierungsnöte von Transsexuellen untersuchen. Tomboy der Französin Céline Sciamma und der deutsche Beitrag Romeos von Sabine Bernardi erzählen vom Heranwachsen eines Jungen – in einem Mädchenkörper. Das eher Laut-Spektakuläre wird in diesem Jahr unter anderem von Beiträgen aus Lateinamerika bedient, allen voran von dem brasilianischen Polizeigewaltschocker Tropa de Elite 2. Regisseur José Padilha holte vor drei Jahren mit dem Vorgängerfilm den Goldenen Bären. Nicht minder dramatisch geht es in Icíar Bollains También la lluvia (Sogar der Regen) zu. Das in Bolivien spielende Polit-Melodram führt, mit Gael García Bernal und Luis Tosar in den Hauptrollen, ein Filmteam mit den örtlichen Indios zusammen: Die einen wollen die Anfänge des Kolonialismus zu Kolumbus’ Zeiten anprangern, die anderen haben vielmehr mit dem Neokolonialismus von heute zu kämpfen. Sie wehren sich mit aller Kraft gegen die Privatisierung des Trinkwassers durch ausländische Konzerne. Während solche Filme die sozialen Kollisionen der Gegenwart für großes Gefühlskino nutzen, geht es anderen Polit-Filmen im Panorama um Erkenntnisgewinn. Göran Hugo Olssons The Black Power Mixtape würdigt mit viel Sympathie die Bewegung um die afroamerikanischen Heroen Stokely Carmichael, Angela Davis und Harry Belafonte. Der Film kombiniert dabei wiederentdecktes Archivmaterial des schwedischen Fernsehens aus den späten Sechzigern und frühen Siebzigern mit aktuellen Interviews von Hip-Hop-Musikern und Filmleuten. Ebenfalls dokumentarisch präsentiert Cyril Tuschis Khodorkovsky den einstigen Öl-Oligarchen und heute wohl prominentesten politischen Gefangenen der Welt, der unlängst in einem Interview prognostizierte, der russische Regent Putin wolle ihn lebenslang im Gefängnis schmoren lassen. Nach langer Umkreisung der Biografie gelingt dem Regisseur ein kurzes Gespräch mit dem unbeugsamen Häftling, der aus dem Glaskasten seines Moskauer Prozesses glasklar antwortet. Und wenn die Wirklichkeit nur noch in der Satire Wirkung zeigt? Dann ist sie wenigstens zum Lachen – wie in Giulio Manfredonias Farce Qualunquemente um italienische Provinzoligarchen und Kleinstadt-Berlusconis. Gelobt sei, was Spaß macht.

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