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Kultur: Passionsfrüchte

Erst der Glaube, dann die Musik: das Bachfest in Leipzig

Am Ende stimmt das Publikum nicht mit, sondern auf den Füßen ab: Zum „Dona nobis pacem“ der h-moll-Messe erheben sich etliche Leipziger mit ihrem Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee an der Spitze von den Holzbänken der Thomaskirche und hören Bachs Friedensbitte stehend, mit demütig gesenkten Häuptern. Eine Geste, die an diesem 8.Mai eine Brücke über die Jahrhunderte schlägt: von den Fährnissen der friderizianischen Kriege bis zum 60. Jahrestag des Kriegsendes, von Pestilenz und Hungersnot zu den Bildern der Gedenkveranstaltungen, die an diesem Tag die Fernsehkanäle dominieren.

Zugleich gibt dieser Moment aber auch eine Antwort auf die Frage, der sich das siebte Musikfest zu Ehren des Thomaskantors gestellt hatte: Unter dem Motto „Bach und die Zukunft“ ging es darum, inwieweit sich der religiöse Gehalt Bachscher Musik einem weltweiten Publikum vermitteln lässt, das von christlicher Heilslehre kaum mehr eine Idee hat. Und darum, ob sich heute noch Glaube in Töne umsetzen lässt.

In der Luft liegt das Thema schon länger. Spätestens das große Passions-Projekt der Stuttgarter Bach-Akademie hatte im Jubiläumsjahr 2000 mit Vertonungen von Komponisten wie Arvo Pärt, Tan Dun und Sofia Gubaidulina gezeigt, dass die Musik, nach einem halben Jahrhundert relativer Bedeutungslosigkeit, wieder als Trägersubstanz religiöser Werte begriffen wird. Das spektakuläre Passions-Projekt machte auch deutlich, dass sich die inzwischen in allen Bereichen der Kunst proklamierte „Rückkehr des Religiösen“ musikalisch an der Leitfigur Bach ausrichtet: Immer noch gelten h-moll-Messe und Matthäus-Passion als die Modellfälle religiösen Komponierens, während niemand auf die Idee käme, etwa Händels ähnlich populären „Messiah“ als Bezugspunkt aktueller geistlicher Komposition zu sehen.

Der lange Schatten des Thomaskantors reicht bis ins 21. Jahrhundert – die Verquickung zeitgenössischer Kompositionen mit Werken Bachs in den zentralen Konzertprogrammen des Bachfestes zeigte nicht zuletzt, wie schwer es ist, aus ihm herauszutreten. Und das, obwohl sich in Leipzig immerhin Galionsfiguren moderner Musik wie Heinz Holliger und Hans Zender mit eigenen Vokalwerken dem Vergleich mit Bach-Kantaten stellten. Doch während bei Zenders Psalmvertonung „Canto VI“ Bariton und Chor sich in pauschal-pathetischen Betroffenheitsgesten erschöpfen, erstarrt Holligers Quasi-Kantate „Dunkle Spiegel“ in spekulativem Klanggegrübel. In ihrer intellektuellen Sperrigkeit beschreiben beide Werke modellhaft das Problem, eine moderne geistliche Musiksprache zu finden. Es fehlt nicht an technischem Können, sondern an der verzückten, herzinnigen Naivität des Glaubens, die aus jeder Bach-Kantate leuchtet – und wohl auch am klaren Weltbild, das aus den festgefügten Strukturen der Werke spricht. Das zentrale Thema vieler Komponisten des 21. Jahrhunderts, Unsicherheit und Entfremdung, ließe sich folgern, scheint für geistliche Werke kein besonders günstiger Ausgangspunkt zu sein. So erscheint es nur konsequent, dass ein Komponist wie Arvo Pärt (dessen Johannis-Passion gleichfalls in Leipzig auf dem Programm stand) irgendwann den an diesen Leitmotiven erarbeiteten musikalischen Ausdruckskanon aufgab, um religiöse Musik schreiben zu können.

Also erst der Glaube und dann die Musik? Wahrscheinlich, und das Abschlusskonzert bestätigte diese Einsicht auch aus der Interpretenperspektive. Statt mit einem internationalen Barock-Spezialisten wie Gardiner oder Harnoncourt zu prunken, hatte man die h-moll-Messe dem Gewandhausorchester und seinem scheidenden Chef Herbert Blomstedt anvertraut. Der 78-jährige bekennende Christ sucht seinen Weg zu Bach und zu Gott nicht über musikwissenschaftliche Finessen, sondern über die Chortradition der Romantik. Schon dem „Kyrie“ verleiht Blomstedt einen unruhigen Puls, lässt den Chor dringlich, fast aggressiv sein gezacktes „Eleison“ als Stimme aus tiefster Bedrängnis artikulieren, wird später im ekstatischen Glaubensrausch durch Stücke wie das „Et resurrexit“ wirbeln. Wenn es einen Gott gibt, wird er an diesem Abend mit seinen Dienern zufrieden gewesen sein.

Jörg Königsdorf

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