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Kultur: Patriotische Pflicht

Michael Thalheimers „Liebelei“ und Frank Castorf „Trauer muss Elektra tragen“ leiden beim Berliner Theatertreffen unter erschwerten Aufführungsbedingungen

Um kurz vor Mitternacht war das Bier alle. DJ Speiche, ein Gastarbeiter von der Volksbühne, der bei der Premierenfeier von Michael Thalheimers Hamburger Schnitzler-Inszenierung „Liebelei“ auflegte, stöhnte: „Westberlin, ich sag’s ja, Westberlin“. Es war Freitagabend, das Berliner Theatertreffen wollte feiern – und was herauskam, war die traurigste Party der Stadt. Am nächsten Abend, nach der Premiere des Züricher Gastspiels von Frank Castorfs amerikanischem Blues „Trauer muss Elektra tragen“ ging das Bier nicht aus, was vor allem daran lag, dass kaum jemand den Weg von der Volksbühne im Osten zum Festspielhaus im Westen, gefunden hatte. Und das, obwohl doch zu Beginn von Castorfs O’Neill-Inszenierung den Zuschauern ziemlich unmissverständlich klargemacht wurde, was Vaterland und Theater zu dieser Stunde von ihnen erwarten: „Heute Abend ist es geradezu die patriotische Pflicht, sich zu betrinken.“ Vielleicht lag es an der nicht zu übersehenden Müdigkeit und dem lässigen Desinteresse, das die Schauspieler hier demonstrierten, dass bis auf wenige wahre Patrioten niemand Lust verspürte, seine vaterländischen Pflichten zu erfüllen. Immerhin blieb so der vernichtende Satz aus, die Premierenparty sei aufregender gewesen als die Premiere.

Michael Thalheimers „Liebelei“ soll am Entstehungsort sehr schön gewesen sein. Im Berliner Festspielhaus konnte, wer in der hinteren Hälfte des Parketts saß, die Qualitäten der Inszenierung nur erahnen. Das Hamburger Thalia Theater ist ein eher intimes Theater, ideal für Kammerspiele und leise Zwischentöne. Das Festspielhaus ist etwa doppelt so groß und für Kammerspiele wie Thalheimers schroffe Schnitzler-Variation gänzlich ungeeignet. Wie schon bei den ersten beiden Gastspielen des Theatertreffens, Breths „Emilia Galotti“ und Puchers „Richard III.“, erwies es sich als zuverlässige Theatervernichtungsmaschine. Statt für die Gastspiele adäquate Berliner Aufführungsorte zu suchen, wird fast jede Inszenierung auf die riesige Bühne gezwängt und dabei zwangsläufig beschädigt. So demonstrieren die Verantwortlichen der Berliner Festspiele wenig Gespür für die empfindliche Kunst des Theaters. Die Probleme setzten sich mit der teilweise katastrophalen technischen Betreuung der Gastspiele fort. Der Sound ist abscheulich, die Mikroports fallen aus oder sind übersteuert, die Lichtstimmungen verwackeln. Ein gut geführtes Festival sieht anders aus. Nach den verunglückten Festwochen im Herbst besteht erneut Anlass, an der Kompetenz der neuen Leitung gelinde zu zweifeln. Verglichen mit der Professionalität eines Ulrich Eckhard oder Thorsten Maß bietet sie derzeit fast den Anblick liebenswürdiger Amateure.

Und das Theater? Leider war sowohl bei Thalheimers als auch Castorfs Inszenierung der Beigeschmack der Selbstplagiats ziemlich aufdringlich. Thalheimer reduziert Schnitzlers Geschichte auf den emotionalen Kern, entblättert sie von Zeit- und Lokalkolorit, vom allem Jahrhundertwende-Geschnaksel und stellt sehr kühl die extremen Gefühle aus. Trotz der hinreißenden Schauspieler (Fritzi Haberlandt! Maren Eggert!) hat das etwas manieriertes, wirkungsvoll und etwas zu leicht durchschaubar. Auch Castorfs Inszenierung ist vielleicht nicht sein größtes Werk: So mürrisch sind der Untergang der westlichen Welt, die Selbstzerstörung der amerikanischen Kleinfamilie wohl selten beschrieben worden. Bernhard Schütz in der Doppelrolle der Halbbrüder Mannon und Brant rockt, Bibiana Beglau als Lavinia hat Kraft und eine schön kaputte Ausstrahlung, der Rest bleibt etwas mürbe und zäh.

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