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Der Berliner Autor Maik Brüggemeyer muss sein Buch umschreiben.

© Sybille Baier

Persönlichkeitsrechte: Reinheitsgebot für Romane

Immer häufiger ziehen Autoren Bücher zurück – angeblich werden Persönlichkeitsrechte verletzt. Sind Juristen die neuen Kritiker?

Maik Brüggemeyer lächelt, wenn er daran denkt, wie alles anfing. Der Debütroman des „Rolling Stone“-Redakteurs, „Das Da-Da-Da-Sein“, lief vielversprechend an: ein Buch über die Schwierigkeiten des Paar-Lebens, „das Porträt einer Generation, der es schwerfällt, ihren Platz im Leben zu finden“, so der Klappentext. Die Presse interessierte sich, Frauenzeitschriften und Magazine wollten rezensieren. Bis den 1976 geborenen Autor vor eineinhalb Wochen ein Anruf des Aufbau Verlags erreichte, bei dem der Roman erscheint: Das Buch müsse zurückgezogen werden, die Persönlichkeitsrechte „einer Person“ seien verletzt worden.

Sofort wurden Gerüchte laut, da habe sich wohl die Ex-Frau gemeldet – und man mutmaßt unwillkürlich, dass hier intime Details ins Licht der Leselampe kommen könnten, dass schmutzige Wäsche im Vollwaschgang der Fiktion sauber werden sollte. Das könnte unangenehm sein: Geschmäht werden, das mag niemand.

Der Fall „Esra“ kommt einem in den Sinn. 2003 war Maxim Billers gleichnamiger Roman erschienen, gegen dessen Veröffentlichung Billers ehemalige Freundin und deren Mutter geklagt hatten. 2007 bekam die Ex-Freundin vom Bundesverfassungsgericht Recht: Das Grundrecht der Kunstfreiheit verlor gegen das Grundrecht auf Schutz des Persönlichkeitsrechts. Die Entscheidung hatte eine „abschreckende Wirkung“, sagt der Berliner Medienanwalt Dominik Höch: „Das Bewusstsein, dass solche Schritte möglich sind, ist gewachsen.“ Dieses Jahr zogen die Hamburger Autorin Tina Uebel und der Comedian Christoph Maria Herbst die ersten Fassungen ihrer Werke zurück. Uwe Wittstock fragte daraufhin im „Focus“, ob so eine „Literatur ohne Biss“ entstehe – aber sind das Problem nicht eher Verlage ohne Biss? Die teure Prozesse meiden und lieber ihre Autoren zum Umschreiben bewegen? Die keinen Mumm haben, vor Gericht zu gehen und lieber die Idee des offenen Kunstwerks vertreten?

Maik Brüggemeyer, grau durchzogene, strubbelige dunkle Haare, mit Trainingsjacke, Jeans und Turnschuhen, wirkt etwas verunsichert, wenn er beim Gespräch in einem Kreuzberger Café erklärt, was er jetzt mit seinem Manuskript anstellen wird, damit es Mitte September in angepasster Form erscheinen kann. Er ist bei aller Verschmitztheit, die er sich noch erlaubt, vorsichtig: „Die Figuren sind nicht austauschbar, aber man kann sie an einigen Punkten verändern, ohne die Aussage des Textes zu verändern. Ich werde Konstellationen umstellen und dann zu einem Ergebnis kommen.“ Ende August muss er fertig sein. Ein Kapitel, sagt Brüggemeyer, werde er wohl streichen.

Aufbau-Geschäftsführer Tom Erben beschwichtigt im Deutschlandradio: „An der Tatsache, dass das jetzt auch recht zügig geht, können Sie sehen, dass es keine umfangreichen oder grundlegenden Änderungen sind.“ Konkreter wird keiner der Beteiligten. Der Autor sagt grinsend: „Der Ich-Erzähler wird jetzt ernster genommen, als ich ihn je genommen habe.“ Juristische Auseinandersetzungen heben ein Werk ins Rampenlicht.

Aber was ist hier eigentlich los? Verlage würden immer häufiger mit Klagen wegen der vermeintlichen Verletzung von Persönlichkeitsrechten überzogen, stellt Brüggemeyers Lektor Andreas Paschedag fest. Sind Juristen die neuen Literaturkritiker, die bestimmen, was hinreichend fiktionalisiert ist und was nicht? Dass ein Gericht über die künstlerische Qualität eines literarischen Werkes bestimme, bestreitet Anwalt Höch. Es gehe darum, zu entscheiden, ob in einem Roman eine reale Person als solche erkennbar sei, falls bei einer Figur etwa ähnliche Verwandtschaftsbeziehungen, Eigenschaften, Berufe oder soziale Bindungen vorliegen. Das Bundesverfassungsgericht sagt auch, dass eine Person, die sich in einem Roman porträtiert fühlt, unter Umständen vieles – außer Details aus der Intimsphäre – hinnehmen muss. Verlage hätten wegen „Esra“ eine gewisse Schere im Kopf, sagt Höch, dafür gebe es eigentlich keinen Grund. Theoretisch gibt es noch immer Spielraum.

Lektor Paschedag hielte es für gut, „wenn die Debatte um Kunstfreiheit versus Persönlichkeitsrechte noch einmal grundsätzlich geführt würde. Auch die Rechtsprechung dazu sollte zugunsten der Literatur überprüft werden.“ Bisher gibt es eben nur die „Esra“-Entscheidung. Anwalt Höch rät, „die Verlage sollten den Mut haben, bei bestimmten Sachverhalten nicht das Gericht zu scheuen“.

Aber liegen die Fragen nicht woanders als im Rechtssystem? Die Vermutung liegt nahe, dass heutige Identitätsspielereien per Mode, Facebook, Lifestyle zu immer größeren Egos führen. Die wollen Aufmerksamkeit, wollen ihre Außenwirkung kontrollieren. Käufer wiederum stürzen sich auf enthüllende Bücher – sicher auch auf das heute erscheinende „Schoßgebete“, den erklärt autobiografischen zweiten Roman von Charlotte Roche, in dem die Erzählerin diverse Traumata und ein vielfältiges Sexualleben beleuchtet.

Schmutzige Details, die interessieren jeden. Aber haben die Leser denn vergessen, was sie in der Schule gelernt haben? Der Erzähler ist nicht identisch mit dem Autor! Weil sich daran niemand zu erinnern scheint, steht den „Schoßgebeten“ ein Disclaimer voran: „Dieser Roman basiert auf einer wahren Begebenheit. Darüber hinaus ist jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen sowie realen Geschehnissen rein zufällig und nicht beabsichtigt.“ Sicher ist sicher.

Was also tun? Brauchen wir besseren Deutschunterricht, eine differenziertere ästhetische Lese-Erziehung? Der in seiner Autorschaft angegriffene Maik Brüggemeyer wird sarkastisch: „Vielleicht sollten die Leute wieder mehr in die Kirche gehen, um zu verstehen, wie Geschichten funktionieren. Dort ist jedem klar, dass es um Bilder geht, dass nicht Wirklichkeit verhandelt wird.“ Ihm kommt es vor, als sei aus seiner Fiktion eine falsche Realität gemacht worden.

Und tatsächlich: Der Realitätsbegriff hat sich verändert. Wirklichkeit ist medial vermittelt, im Internet, im Fernsehen, in Büchern. Es gibt sie als Reality 1.0, 2.0, bald vielleicht auch 3.0. Identitäten sind Avatare, zusammengebaut aus Zitaten, Erlebnissen, Projektionen, Idealen. Dabei ist der Wunsch nach dem Echten groß: Reality-TV boomt, Autobiografien auch. Dabei ist längst Allgemeinwissen, dass eine Autobiografie immer eine subjektiv erzählte Geschichte ist, die mit literarischen Tricks arbeitet. Wer jemals Tagebuch geschrieben hat, weiß das.

Ästhetische Kritik an Texten, Personen, an der Wirklichkeit muss erlaubt sein. Ein Werk, das sich an der Intimsphäre anderer weidet, sollte verrissen, vielleicht auch geändert werden. Doch jedem, der sich wiederzuerkennen meint, Mitspracherecht an der Kunst zu gewähren, kann keine Lösung sein. Betroffene könnten sich doch freuen, in einem Buch vorzukommen. Jedes Erkennen ist auch eine Selbst-Erkenntnis, eine Auseinandersetzung mit dem Ego. Wer wollte nicht, dass seines verewigt wird? Was bleibt, stiften die Dichter. Wusste schon Hölderlin.

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