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Kultur: Pflegen bringt Segen

Was ist ein Denkmal? Vor hundert Jahren skizzierte Georg Dehio erste Antworten. Eine Jubiläums-Ausstellung in Dresden

Ein Pferdekopf grüßt den Besucher. Es ist das einzige erhaltene Originalteil der kupfernen Quadriga Johann Gottfried Schadows von 1789/93, die einst das Brandenburger Tor zierte, ehe sie in den Schlusstagen des Zweiten Weltkrieges zerschossen und 1950 gründlich entsorgt wurde. Was heute auf dem Tor steht, sind nachmalige Abformungen von den Gipsen, die ebenfalls gezeigt werden – hier, in der Ausstellung „Zeitschichten“, im noch provisorischen zweiten Obergeschoss des Dresdner Residenzschlosses. Einst barg es den Audienzsaal August des Starken und damit die Herzkammer des sächsischpolnischen Königtums.

Das Brandenburger Tor symbolisiert die deutsche Teilung ebenso wie den Glücksfall der Wiedervereinigung. Dass das Tor ein Denkmal allerersten Ranges ist, eines der Kunst wie der Geschichte, steht außer Zweifel. In seiner Substanz als Bauwerk so oft geschunden und restauriert, demonstriert es zugleich die Problematik des Baudenkmals. Was macht ein Denkmal aus und seine Erhaltungswürdigkeit? Welcher Zustand soll erhalten oder womöglich zurückgewonnen werden? Und wie ist es für die Zukunft zu sichern?

Fragen, die nun in der Dresdner Ausstellung nochmals gestellt werden. Sie präsentiert zwei Jahrhunderte deutsche Denkmalpflege – anlässlich der Hundertjahrfeier des Dehio-Handbuchs. Als sich die Bauhistoriker Anfang des 20. Jahrhunderts auf dem ersten „Tag für Denkmalpflege“ in der kunstsinnigen Residenzstadt Dresden trafen, schickte der Straßburger Ordinarius Georg Dehio (1850–1932) den Entwurf einer Denkmalinventarisierung für das ganze Deutsche Reich. So ward’s beschlossen, und fünf Jahre später, vor genau einhundert Jahren, lag der erste unter seiner Leitung erstellte Band des „Handbuchs der Deutschen Kunstdenkmäler“ vor.

Anfang 1905 hielt Dehio außerdem eine weithin beachtete Rede, die zur Grundlage der Denkmalpflege in Deutschland wurde. Seine damals formulierten Prinzipien beherzigen die Denkmalpfleger bis auf den heutigen Tag. Die von ihm begründete Topografie, nach zunächst fünf schmalen Bänden auf verbreiteter Grundlage fortgeführt, verzeichnet mittlerweile 23 dickleibige Bücher, die jedem Kunst- und Architekturhistoriker nur als „der Dehio“ geläufig sind.

Denkmal und kein Ende? Die Zentenarfeier des Handbuchs bietet Anlass genug, zwei Jahrhunderte Revue passieren zu lassen, die durch Dehios Grundlegungen streng voneinander geschieden sind. Das 19. Jahrhundert galt der „Entdeckung“ der zumeist national verklärten Denkmale, ihrer Wiederherstellung und oft überhaupt erst Vollendung, aber auch Verfälschung. Und im 20. Jahrhundert forschte man systematisch und bewahrte – nach dem zentralen Dehio-Diktum „Konservieren, nicht restaurieren“.

Das griffige Motto ist längst zum Dogma erstarrt; in der „Charta von Venedig“ hat es 1966 weltweite Bestätigung gefunden. Doch der Paradigmenwechsel von 1900/05 wird nicht der letzte gewesen sein. Wiederum ist Dresden Schauplatz für die drängenden Fragen der Gegenwart – ist doch die Wiedererrichtung des Schlosses selbst ein Musterbeispiel heutigen Umgangs mit zerstörter Bausubstanz. Vor allem aber wuchs in Sichtweite der Residenz die Nachschöpfung der ausgeglühten Frauenkirche heran, als zentrales Dresdner Identifikationsobjekt. Ihre herrliche Kuppel krönt erneut die Silhouette der Stadt und bildet im Verein mit den Türmen von Hofkirche und Schloss jenes Sehnsuchtsbild, das vom jenseitigen Elbufer her als „CanalettoBlick“ verewigt ist.

Derlei ist der herkömmlichen Denkmalpflege suspekt. „Den Raub der Zeit durch Trugbilder ersetzen zu wollen, ist das Gegenteil von historischer Pietät“, befand Dehio, der 1872 als 22-Jähriger in Geschichte promovierte, sich dann der Kunst zuwandte und stets über Fachgrenzen hinaus dachte. Aber die Lebensleistung des in Reval, dem heutigen Tallinn, gebürtigen Dehio wird erst verständlich vor dem Hintergrund des wilhelminischen Denkmalskults, der in der Kontroverse um die Wiederherstellung des von französischen Truppen 1693 zerstörten Heidelberger Schlosses gipfelte. Ihren weniger exemplarischen Rundkurs mit über 1000 teils noch nie gezeigten Objekten verdichtet die am Wochenende eröffnete, anschauliche Ausstellung in einem dem Namenspatron gewidmeten Saal. Er lässt die Person Dehios ebenso hervortreten wie etwa die Heidelberger Kontroverse. Freie Nachschöpfung eines ungenügend überlieferten Zustandes, ein Idealbild aus dem Geist des Historismus? Dagegen schleuderte Dehio seine Worte.

Zur Jahrhundertwende lag die Vollendung des Kölner Doms als Nationaldenkmal im Jahr 1880 noch nicht einmal eine Generation zurück. Was heute als Höhepunkt der Gotik auf deutschem Boden erscheint, war bis dahin Bauruine. An den auf Goethes Wunsch hin kolorierten Aufrissen der Westfassade, die nach den in den Wirren der napoleonischen Besetzung verstreuten und 1816 aufgefundenen Originalplänen des 14. Jahrhunderts entstanden, zeigt die Ausstellung die Denkmalspraxis vor Dehio. Büsten von Schinkel und Goethe, aber auch des Engländers Ruskin und des Franzosen Viollet-le-Duc spannen den Bogen des 19. Jahrhunderts. Vor diesem Hintergrund agierte Dehio, als er es der Wissenschaft zur ersten Pflicht machte, überhaupt einmal zu erfassen, was Denkmal genannt zu werden verdient.

„Wie kann die Menschheit die geistigen Werte, die sie hervorbringt, sich dauernd erhalten?“, fragte Dehio 1905. Von derart grundsätzlichem Nachdenken hat sich die Denkmalpflege unterdessen entfernt. Denn Zerstörungen hatte zwar bereits der Erste Weltkrieg mit sich gebracht, aber die Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs waren bis dahin unvorstellbar. Dies führte zu einem nüchterneren, allerdings auch quantitativ weiter gefassten Denkmalsbegriff. Das nach 1945 nochmals beschleunigte Verschwinden der materiellen Geschichtszeugnisse rückte auch bislang kaum beachtete Objekte ins Blickfeld. Am ideologisch begründeten Zurechtbiegen von Denkmalen während der Nazi-Zeit einerseits, am Umgang mit deren Hinterlassenschaften bis hin zu KZ-Baracken andererseits demonstriert die von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, der Vereinigung der Landesdenkmalpfleger und der Dehio-Vereinigung ausgerichtete Ausstellung diesen zeitbedingten Wandel des Denkmalsverständnisses.

Vom Audienzsessel des prestigehungrigen Königs August von 1718 bis zu der noch 1980 geschändeten Gedenkstele vom sowjetischen Kriegsgräberfriedhof in Bergen-Belsen reichen die Objekte. Sie machen anschaulich, wie viele Zeit- und Bedeutungsschichten in einem Denkmalsfragment stecken. Und sie lassen erahnen, dass sich der Denkmalscharakter im materiellen Objekt nicht zur Gänze erklärt. Ein Denkmal „ist“ nicht. Es entsteht, indem ihm diese Eigenschaft zugeschrieben wird. Bedeutungen werden ihm angeheftet und wieder genommen. Georg Dehio steht mit seinem, in der Ausstellung mit Büchern, Manuskripten, Zeichnungen und Aquarellen lebendig gemachten Werk für den Umbruch dieser Diskussion von der Nationalidentität zur Wissenschaft – aber auch von der Einzigartigkeit des Einzelbauwerks zur inflationär ausgeweiteten Auflistung.

Wäre es nicht möglich, fragte Dehio 1905, „den zerstörenden Mächten entgegenzutreten und die Daseinsdauer unseres Kunst- und Denkmalsschatzes um eine gute Frist wenigstens zu verlängern?“ Die harmlose Frage berührt den Kern unseres Umgangs mit Geschichte. Ihre Zeugnisse sind endlicher Natur. Bewahren gelingt nur, wo das Denkmal als solches begriffen wird. Das aber muss jede Gegenwart aufs Neue leisten. Dass sich unsere Zeit mit dem Verlust identitätsstiftender Denkmäler nicht mehr abfinden mag, wie Dresdens Frauenkirche vor Augen führt, bedeutet eine Herausforderung an die Denkmalpflege, der sie mit bloßem Beharren auf Dehio nicht mehr gerecht werden kann. So steht die Dresdner Ausstellung „Zeitschichten“ an der Schwelle zu einem abermals gewandelten Denkmalsverständnis.

Dresden, Residenzschloss, bis 13. November. Katalog im Deutschen Kunstverlag, 340 S., 24,90 €, im Buchhandel 34,90 €.

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