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Philosophie: Das moralische Warum

Der Frankfurter Philosoph Rainer Forst plädiert für eine Wende der Gerechtigkeit - moralisch, rechtlich, politisch und ethisch.

Die politische Sprache wurde in den letzten Jahren durch kühne Neuschöpfungen wie die „Ich AG“ bereichert. Und manch alter Begriff wie die Gerechtigkeit schillert in wundersam vermehrten Bedeutungen – wobei die Rede von der „Generationengerechtigkeit“ auch handfeste ökonomische Nöte des Sozialstaats verdecken kann. Je lauter jedenfalls von den vielen Einzelgerechtigkeiten gesprochen wird, desto mehr scheint die eine Gerechtigkeit abhanden zu kommen. Die rasante Ungleichverteilung von Reichtum und Armut paart sich mit einer sozialen Ungleichverteilung von politischem und rechtlichem Einfluss.

In diese Konflikte mischt sich der 1964 geborene Philosoph Rainer Forst mit dem Entwurf zu einer „konstruktivistischen“ Theorie der Gerechtigkeit ein. Forst, ein Schüler von Jürgen Habermas und als Nachfolger von Iring Fetscher und Ingeborg Maus als Professor für Politische Theorie an die Frankfurter Johann-Wolfgang-Goethe-Universität berufen, entfaltete seine Grundideen bereits in der Studie „Kontexte der Gerechtigkeit“ (1994). Gerechtigkeit muss sich dabei in vier „Kontexten“ ausweisen: moralisch, rechtlich, politisch und ethisch.

Forsts Habilitationschrift „Toleranz im Konflikt“ (2003), wie die Disssertation im Suhrkamp Verlag erschienen, betrachtete die demokratische Tugend der Toleranz als einen von der Gerechtigkeit abhängigen Begriff. Beide Bücher haben inzwischen den Status von Standardwerken. Forsts jüngste Veröffentlichung „Das Recht auf Rechtfertigung“ sammelt seine wichtigsten Aufsätze und ordnet sie unter drei systematischen Gesichtspunkten.

Gerechtigkeit darf sich nach Forsts Auffassung nicht auf vorgängige Werte berufen. Sie ist das Ergebnis eines zweistufigen demokratischen Prozesses. An ihm sind alle Mitglieder einer politischen Gemeinschaft in einer Doppelrolle beteiligt. Sie sind einerseits die Maurer („Subjekte“), andererseits die späteren Bewohner („Adressaten“) des Gebäudes der Gerechtigkeit. Allen Personen wird ein gleiches „Recht auf Rechtfertigung“ zuerkannt. Dieses Recht gilt als der Anfang und der Grund, auf dem das Gebäude der Gerechtigkeit errichtet werden soll. Und es bezeichnet das normative Wie des Planens und Bauens selbst.

Durch die Abwägung von Gründen sollen vernünftige Normen und Rechte gefunden und legitime Institutionen errichtet werden. Immer dann, wenn andere betroffen sind, besteht eine Pflicht zur Rechtfertigung. Ihr entspricht folglich ein Recht des Gegenübers, sich Gründe geben zu lassen. Können alle Beteiligte sie zwanglos nach den Kriterien der Wechselseitigkeit und Allgemeinheit akzeptieren, dürfen die entsprechenden Normen oder Rechte als gerechtfertigt gelten. Jeder, der trotzdem wechselseitige und allgemeine Einwände vorbringen kann, kann von einem moralischen Vetorecht – seinem Recht auf Rechtfertigung – Gebrauch machen.

Diese erste Stufe des demokratischen Prozesses nennt Forst „moralischen Konstruktivismus“. Hier wird das Rechtfertigungsprinzip selbst begründet und seine Beziehung zur praktischen Vernunft entwickelt. Das moralische Grund-Recht auf Rechtfertigung dient zur Bestimmung der unverzichtbaren Menschenrechte. Ihre Anerkennung legt „eine Grundstruktur der Rechtfertigung“.

In einer zweiten Stufe des „politischen Konstruktivismus“ geht es um eine „vollständig gerechtfertigte Grundstruktur“ der Gesellschaft. Hier führt Rainer Forst gegenüber seinem Erstlingswerk eine weitere Unterscheidung ein. Politisch-soziale Gerechtigkeit kann nicht ausschließlich auf der staatlichen Ebene erzeugt werden. Dem staatlichen „Innen“ muss ein globales „Außen“ der Menschenrechte und transnationalen Gerechtigkeit korrespondieren.

Forst versteht Gerechtigkeit als „Rechtfertigungsgerechtigkeit“. Ihre wichtigste Frage ist die nach der Macht. Das richtet sich gegen jene Überzeugung, die die Gerechtigkeit allein in der Verteilung von Gütern erblickt. Sie unterschlägt, so Forst, die Fragen der Produktion und ihrer gerechten Organisation. Personen erscheinen hier nur als passive Empfänger einer Verteilungsmaschine. Sie erkennt bloß Zustände des Mangels, aber keine Mangelzustände, die Folge wirtschaftlicher und politischer Ungerechtigkeit sind. Daher plädiert Forst für eine politische Wende der Gerechtigkeitsdebatte.

Es könnte jedoch sein, dass diese Wende längst im Gange ist – nur eben ganz anders als von ihm gefordert. Denn der Einfluss der unpolitischen Verteilungstheorie ist bei den Eliten mittlerweile völlig zurückgedrängt. Der „Umbau“ des Sozialstaates, so heißt es immer wieder, stehe an. Statt um Fürsorge geht es nun um Freiheit und Verantwortung des Einzelnen – gegen die „Bevormundungen“ des alten Sozialstaats. Und in den entscheidenden Rechtfertigungsverfahren herrschen die Experten. Sie geben vor zu wissen, was für alle gut ist.

Forst steht, wie viele Philosophen, die sich der Tradition der Aufklärung zurechnen, dieser Entwicklung bislang mit einer kaum begreiflichen Gleichmut gegenüber – und das, obwohl er als prominenenteste Figur aus der mittlerweile vierten Generation der sogenannten Frankfurter Schule um Horkheimer und Adorno dafür ein lebhaftes Interesse haben müsste. Immerhin wird in den lebhaften Debatten über transnationale Gerechtigkeit die Wichtigkeit der ökonomischen Gerechtigkeit wiederentdeckt. Nach der Grundlegung der „konstruktivistischen“ Gerechtigkeit wäre eine Untersuchung der gegenwärtigen Gesellschaft und eine Kritik der Macht der nächste Schritt der Theorieentwicklung.

Rainer Forst: Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 413 S., 14 €.

Heinz-Bernhard Wohlfarth

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