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Kultur: Pisa vor, noch ein Tor!

An manchen Samstagnachmittagen, wenn Elfriede ihn wegließ, stahl sich Martin Heidegger von seinem Villenvorort Zähringen weg zu den kleinbürgerlichen Reihenhäuschen entlang der Freiburger Schwarzwaldstraße. Heimlich schaute er dort, bei dem ihn anbetenden philosophischen Jünger Heinrich Wiegand Petzet, die "Sportschau".

An manchen Samstagnachmittagen, wenn Elfriede ihn wegließ, stahl sich Martin Heidegger von seinem Villenvorort Zähringen weg zu den kleinbürgerlichen Reihenhäuschen entlang der Freiburger Schwarzwaldstraße. Heimlich schaute er dort, bei dem ihn anbetenden philosophischen Jünger Heinrich Wiegand Petzet, die "Sportschau". Sein Lieblingsspieler, so ließ er verlauten, sei Franz Beckenbauer, und das war damals ganz schön subversiv.

Heute würde vielleicht sogar Elfriede ein bisschen mitreden, wenn es um Fußball geht. Seit ein paar Jahren wetteifern die Kulturschaffenden darin, auch beim Fußball alles herauszukitzeln, was es an feuilletonistischen Aspekten gibt. Dabei hat sich der deutsche Fußball um keinen Deut geändert. Er ist genauso blutgrätschend und zermürbend wie ehedem.

Die Kulturwerdung des Fußballs hat damit zu tun, dass in den langen, ermüdenden Jahren der Ära Helmut Kohls ein Paradigmenwechsel stattfand. In der Politik war eh nichts mehr zu machen, also wurden die Nebenkriegsschauplätze wichtiger. 1986 druckte die "taz" noch begeistert den Essay über "linken und rechten Fußball" des argentinischen Trainerphilosophen César Luis Menotti ab, doch schon wenige Jahre später wurden dort "Widerspiegelungstheorien" und "Zwangsanalogien" zwischen Fußball und Gesellschaft angeprangert. Das war der Beweis: Luhmann hatte haushoch gegen Habermas gewonnen.

Es reichte jetzt, ein paar Semester der neuen Studiengänge zu studieren, die den Geist aus den Geisteswissenschaften vertrieben und die "Kommunikationswissenschaften" hießen oder "Medienwirtschaft". Fußball wurde zur Systemtheorie. Es ging einzig und allein um das Ergebnis, um das, "was hinten rauskommt" (Helmut Kohl). Der ganze Firlefanz von Ästhetik, von Utopie, von Kulturkritik war ad acta gelegt. Und da die Deutschen scheinbar immer gewannen, war das das einzige, was zählte.

Die Sache mit Luhmann interessierte alle anderen Länder jedoch überhaupt nicht. In Frankreich oder Brasilien nahm man diesen deutschen soziologischen Sonderweg gar nicht erst zur Kenntnis, Deutschland verpasste den Anschluss an die internationale Entwicklung. Es dauerte nur wenige Jahre, und der deutsche Fußball, der immer wie selbstverständlich zur Weltspitze gehörte, befand sich plötzlich in der zweiten oder gar dritten Reihe.

Man vertraute in Deutschland verbissen dem, was man gewohnt war, "deutsche Tugenden" zu nennen. Zähnezusammenbeißen, Rackern, Kampf Mann gegen Mann. Wer auf dem Höhepunkt der Ära Helmut Kohls darauf aufmerksam machte, dass bei Südamerikanern oder Afrikanern lustvoller gespielt wurde, der wurde in Namen der Effektivität und des scheinbaren "Erfolgs" zurechtgewiesen. "Schönspielerei" war das beliebteste Schimpfwort, und wenn einer einmal den Ball vertändelte und einen Schlenker zuviel machte, tönte es ihm aus allen Kanälen und Reporterkehlen sofort entgegen: "brotlose Kunst!"

Anlässlich der Weltmeisterschaft 1994 tobte der Kampf zwischen den "Fußballästheten", die in diesem Spiel mehr sahen als ein Hin und Her von 22 Leuten zwischen 4 Eckfahnen, und den Pragmatikern am vehementesten. Letztere glaubten noch, Deutschland werde sich wie immer bei Turnieren durchbeißen und zwar unansehnlich, aber erfolgreich davonstehlen. Die "FAZ" verkündete pünktlich zum Anpfiff: "Der deutsche Fußball war noch nie so gut wie heute!" Die ganze Schönspielerei, die ganze Ideologie mit den Individualisten, den raumöffnenden Pässen und den überraschenden Ideen - das gehe heute alles nicht mehr. Die Systemtheoretiker verkündeten Berechenbarkeit und Athletik. Dem einzelnen Ballkünstler werde heutzutage überhaupt kein Platz mehr gelassen. Nach der WM 94 hörte man dann sogar in der "FAZ" solche Töne nicht mehr. Die "deutschen Tugenden", die so vehement der "Schönheit" entgegengesetzt wurden, hatten sich doch allzu jämmerlich ausgenommen.

Mit der Weltmeisterschaft 1998 war dann gar nichts mehr zu retten. Die Holländer, die Franzosen, die Brasilianer ließen einen Klassenunterschied zu den selbstzufriedenen Deutschen erkennen. Und plötzlich hörte sich alles ganz anders an. Man neidete den Holländern und Franzosen ihre alte Kolonialpolitik in Übersee. Landauf landab wusste plötzlich jeder, dass die Holländer und Franzosen "Schwarze" in ihren Reihen haben, die einfach irgendwie "besser mit dem Ball umgehen können". Und dann tauchte auch noch die Vision auf, dass die Kolonien eines Tages zurückschlagen würden ... Senegal! Pape Bouba Diop!

Hätte man genauer hingeschaut, wie die Deutschen seit geraumer Zeit Fußball spielen, dann wäre die "Pisa-Studie" für das Bildungswesen nicht so überraschend gewesen. In Deutschland wurde Fußball als Kunst immer sträflich vernachlässigt. Der Spaß, am Ball zu sein, im Zweifelsfall auch ein bisschen zu verspielt zu sein, ist hier von Kindesbeinen an verpönt. Solche Mätzchen werden im Namen der "Effektivität" schon in der F-Jugend ausgetrieben. "Zu ballverliebt" ist das häufigste Verdikt schon ganz unterer Fußballtrainer. Das Spielerische steht unter Subversionsverdacht.

Während in Deutschland noch bodenständig verkündet wurde, dass Manndeckung besser als Raumdeckung sei, während hier ein Wort wie "Viererabwehrkette" noch Urängste auslösen konnte, wurde woanders längst das ballorientierte Spiel kultiviert: das Überzahlspiel in Ballnähe. Das setzt Mitdenken voraus, Selbständigkeit jedes einzelnen Spielers, und die klassischen Rollenverteilungen sind außer Kraft gesetzt.

Das Prekäre ist, dass die Deutschen nicht einmal mehr "arbeiten". Man versuchte noch, von "deutschen Tugenden" zu zehren, als kaum ein deutscher Fußballer mehr diese Tugenden verkörperte. Die typischen Spieler der letzten Jahre, Möller, Effenberg und wie sie alle heißen, haben nichts mehr mit Ärmelhochkrempeln zu tun, sondern mit Abzocken. Es herrscht eine Wohlstandsverwahrlosung, während in Frankreich systematisch ein Fußball neuer Prägung gelehrt wurde. Da muss man als Deutscher schon Gegner wie Österreich oder Saudi-Arabien pflegen, um sich einigermaßen aufrecht zu erhalten. Das Glück, solch einen ersten WM-Gegner zugelost zu bekommen, sollte man in Deutschland nicht überschätzen.

Die tradierte Metaphorik des Fußballs ist längst überholt: durch Leistung sozial aufzusteigen. Wenn heute schon 18-Jährige hochdotierte Profiverträge bekommen und die Macht auskosten, dass gestandene Männer mit Mikrofonen und Notizblöcken verzweifelt ein paar O-Töne von ihnen erbetteln müssen, dann ist das Leistungsprinzip außer Kraft gesetzt. Auch im Fußball zeigt sich, dass die Deutschen eine Gesellschaft von Erben sind. Man steigt auf einem hohen Niveau ein, das selbstverständlich scheint, es aber nicht ist.

Wie in der Gesellschaft, wie in der Politik ist man nur noch auf die Systemzwänge fixiert. Und wenn man sich auf das Bestehende beschränkt, keine Perspektiven mehr entwickelt, dann sieht man sich unmerklich von immer mehr Unwägbarkeiten umstellt. Plötzlich steht keiner mehr frei. Niemand läuft in den freien Raum, höchstens dann und wann einer in eine hohle Gasse. Und ungedeckt sind nur noch die Schecks.

Als Heidegger "Beckenbauer" sagte, meinte er etwas anderes als das 8:0 gegen einen verzweifelt gesuchten Aufbaugegner. Heidegger versuchte, in Beckenbauer den Brasilianer zu sehen, eine Grenzüberschreitung. Es wäre an der Zeit, sich wieder auf diesen "Holzweg", wie Heidegger es nannte, zu begeben. In allen internationalen Vergleichen rangieren die Deutschen in Gebieten, auf denen sie sich überlegen glaubten, auf den unteren Rängen: ob es sich um Lebensqualität, Wirtschaftskraft oder eben um das Bildungswesen handelt. Aus Indien muss man Computerspezialisten holen, aus Afrika, Brasilien oder sogar aus Osteuropa die Leistungsträger der Fußball-Bundesliga.

Während die politische Spitze noch mit überkommenen Wohlstandmodellen wie der Automobilindustrie herumbosselt, zeigt die "Pisa-Studie", dass es an der Basis fehlt. Vor lauter "angewandten" Studiengängen hat man vergessen, dass es auch Grundlagen gibt, die nicht sofort zu scheinbar verwertbarem Spezialistentum taugen: kreativer Eigensinn, das gedankliche Experiment. Da muss man auch mal einen Ball vertändeln können. Das "Modell Deutschland" - Erfolg statt Leistung, Information statt Wissen, Kommunikation statt Bildung - ist in der Phase der Dekadenz. Dass man das nicht wahrhaben will, rächt sich. In der Nettoverschuldung, im internationalen Ranking der Universitäten und im Fußball.

Helmut Böttiger

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