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Kultur: Plädoyer eines Fundamentalisten

Wie für Waren gibt es auch Markenzeichen für Filmemacher.Fassbinder: der arbeitswütige Egomane.

Wie für Waren gibt es auch Markenzeichen für Filmemacher.Fassbinder: der arbeitswütige Egomane.Aki Kaurismäki: der traurige finnische Clown.Und Jacques Rivette: der letzte Fundamentalist der alten Nouvelle-Vague-Bande, ein eigenbrötlerischer Cinemaniac, der alle Jahre aus seiner Pariser Höhle hervorkriecht und seinen Fans einen neuen Film abliefert.Exzentrisches und persönliches, extremes und exzessives Kino.Seine Überlängen sind fast so legendär wie Stroheims Exzesse.

Jetzt kommt ein neuer Rivette.Der dauert genau 173 Minuten und 23 Sekunden, keine einzige überzählig.Nicht, weil drei Stunden für Rivette eher wenig sind.Auch nicht, weil fast alle dieser Sekunden der Schauspielerin Sandrine Bonnaire gewidmet sind.Bonnaires konzentrierte, karge Präsenz legt von der ersten Sekunde an die Spur, an der wir sanft, aber unerbittlich in diesen Film gleiten.Vielleicht mußte der Regisseur ja den Umweg über die Schwerelosigkeit des dazwischenliegenden Musicals machen, um seine Jeanne La Pucelle im modernen Paris landen und noch einmal scheitern zu lassen.Wie die Protagonistinnen in "Haut bas fragile" besitzt auch die junge Krebsforscherin Sylvie alle Attribute einer jungen Großstädterin: eine große, zeitgemäß karg möblierte Wohnung, einen interessanten Job, einen Anrufbeantworter.Nur die Unbedingtheit, mit der diese junge Frau ihr Leben lebt, scheint aus einem anderen, präkonsumistischen Zeitalter zu kommen.Archaische Wucht hat der Stoff, die Elektra-Geschichte einer Tochter, die im Namen und anstelle des geliebten Bruders den Vater rächen will und dabei selbst untergeht.

"Secret Defense" heißt "Geheimsache" im Original, was soviel wie Militärgeheimnis bedeutet.Einmal im Film fällt dieser Begriff auch, allerdings eher im Scherz.Oder? Sylvies Vater jedenfalls war Waffenhändler.Sein Tod vor einigen Jahren, vermutet Paul, sein Sohn, Sylvies Bruder (von dem schönäugigen Gregoire Colin gespielt), war kein Unfall, sondern Mord.Paul hat ein unscharfes Foto, das den Mörder überführen soll.Dieser, ein Mann namens Walser, ist nun Nachfolger des Vaters im Amt - und der ehemalige Liebhaber seiner Frau.Sympathisch ist der füllige Machtmensch Walser nicht.Doch seine dubiose Ausstrahlung fasziniert auch Sylvie, die ihn eigentlich töten will.Er scheint auch Dinge zu wissen, die ihn entlasten könnten.Als Sylvie Genaueres erfährt, ist sie selbst schon zur Mörderin geworden.Wie in fast allen Filmen von Rivette gibt es also auch hier eine Verschwörung, ein Geheimnis zu entdecken.

Wenn man klassische Kinomaßstäbe ansetzt, ist "Geheimsache" ein glatt-mißlungener Film.Die Story: altbacken.Der Kampf der Schauplätze, Großstadtwohnung gegen Walsers antiquitätenbestücktes "Domaine": Klischees.Die Charaktere sind flach, ohne Geschichte, die Inszenierung monoton: minutenlange Dialoge, die die Kamera geduldig aufzeichnet.Und auch mit der Spannung scheint es nicht zu klappen.Rhetorische Argumente.Sehen wir nochmal hin.Drei Stunden, in denen nicht wortreich, doch zeitraubend miteinander geredet wird, telefoniert, gestritten, gestanden, inquiriert.Aber auch drei Stunden gefüllt mit reinster Bewegung.Auch die der Kamera von William Lubtchansky, doch die folgt nur - allerdings oft auf raffinierten Wegen - den Menschen.Meistens der Heldin selbst.Die rennt nicht, aber sie läuft, mit herb-energischem Schritt: von Zimmer zu Zimmer, durch Treppenhäuser und Metrogänge.Sie fährt: mit der Metro, Vorortszügen, dem TGV.Manchmal sehen wir sie minutenlang in der Metro stehen, die Stadtlandschaft flitzt vorbei.

Man kann sich diesen Film wie ein ausführliches Bewegungsprotokoll vorstellen, ein Diagramm, in dem sich die einzelnen Stationen nur als Knoten absetzen.Was zwischen den Knoten liegt, ist ebenso wichtig wie diese selbst.Jedesmal, wenn Sylvie heimkommt, sehen wir sie ihre Wohnungstür öffnen.Aber auch: Selbst Beziehungsgespräche werden zwischen Tür und Angel geführt.Und in Walsers Landgut wird eine Treppe zum Auftrittsort.

In fast jeder Einstellung eröffnet sich ein Blick nach draußen, fast am Schluß aus dem Landhaus ins paradiesisch üppige Grüne, die Vögel zwitschern heftig, und das düstere Interieur erstrahlt in einem Licht, das keine natürliche Ursache haben kann.Ein Plädoyer fürs Leben, auch wenn nichts mehr zu retten ist? Oder schon ein Vorleuchten des Todes?

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