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Kultur: Plastiken von Thomas Lehnerer in der Galerie Seitz / von Werder

Seine kleinen, etwa handgroßen Plastiken sehen alle aus wie kleine Kleriker. Alte, gebeugte Männer sind es, mit hängenden Köpfen und eingefallener Brust.

Seine kleinen, etwa handgroßen Plastiken sehen alle aus wie kleine Kleriker. Alte, gebeugte Männer sind es, mit hängenden Köpfen und eingefallener Brust. Merkwürdigerweise aber sind diese kruden, schrundigen und roh gekneteten Trauerklöße für Thomas Lehnerer so etwas wie Idole. In diesen kleinen Figuren behandelt er ein großes Thema: der Mensch, seine Lebendigkeit, seine Freiheit und sein Glück. Wobei der Künstler beim Plastizieren eben nicht nur gestaltet, sondern auch denkt, und zwar mit der Hand. Die Hand wird so zum Ausdruck des Denkens, des Lebendigen, und zum Organ des Schöpferischen, das der Künstler als Demiurg seinen Geschöpfen mitgibt.

"Wie stellen wir uns Menschen vor, die glücklich sind? Ich will es einmal ganz radikal sagen: Es sind Mönche", hat Thomas Lehnerer einmal gesagt. Daher dieser Hang zu klerikalen Gestalten. Die Figuren - fast ausnahmslos Arbeiten ohne Titel - stehen für den Menschen schlechthin, einem Wesen, das sich irgendwo im Spannungsfeld zwischen Gott und Welt situiert. Diese globale Perspektive kommt nicht nur in den etwa 20 Plastiken (5000 bis 16 000 Mark), die in der Galerie Seitz / von Werder zu sehen sind, zum Ausdruck, sondern auch in den ebenfalls 20 Zeichnungen (2500 Mark). Auf einem dieser etwa DIN A4 großen Papiere findet sich das Motiv des Menschen auf der Kugel, das seit alters her als Symbol für die Welt figuriert. Der Mensch mit Kugelschreiber in verworrenen Linien auf den Globus gesetzt "ek-sistiert", wie man mit Heidegger sagen könnte - er steht in seiner Existenz in den Kosmos hinein. Es geht also bei Lehnerer um philosophische und religiöse Fragen. Dass verwundert nicht, da er nicht nur an der Münchner Akademie Kunst studiert, sondern nach einem weiteren Studium der Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte auch über die "Kunstheorie Friedrich Schleiermachers" promoviert hat.

Bis zum Ausbruch seiner schweren Krankheit im Jahr 1993 war Lehnerer Professor für Theorie und Praxis der visuellen Kommunikation in Kassel. Denken und Machen waren für ihn bei seiner Tätigkeit nicht voneinander zu trennen, ebenso wenig Leben und Kunst. In der Kunst hat Lehnerer deshalb ein elementares Verhältnis des Menschen zum Leben gesehen, ganz so wie es Schleiermacher, das berühmte Credo von Joseph Beuys vorwegnehmend, mit dem Satz "Alle Menschen sind Künstler" formuliert hat.

Und so erkennt man in diesen letzten Plastiken Lehnerers, die vor seinem Tod 1995 entstanden sind, nicht nur den Ausdruck für die zunehmend gelähmte Hand, sondern auch das Sinnbild für den Menschen als Dulder im Einverständnis mit seinem unabwendbaren Schicksal - dem Tod. Die Kunst verleiht dem Leben Ewigkeit, der Geist transzendiert das Fleisch. Das hat Thomas Lehnerer schon früher ziemlich schlagend demonstriert, indem er aus getrockneten Äpfeln oder geräuchertem Schweinefleisch Köpfe modelliert hat.

Auch bei den bronzenen Plastiken, die individuell und einmalig sind durch die Gusstechnik der verlorenen Form, geht es um den Körper. Und hier kommt wohl auch das Moment des Katholischen am deutlichsten zu Tragen. Wie wir wissen, hat die kirchliche Lehre mit dem Körper so ihre Schwierigkeiten. Der erdenschwere, sündige Körper ist nur das Gefäß für Seele und Geist, das nach dem Tod verlassen wird. Vor dem Tod schleppt man es mit sich herum, gedrückt von der Schwerkraft und der Last des Alltags. Die alten Männer, die Lehnerer in seinen Plastiken geformt hat, beschreiben denn auch mit ihrem Körper eine Art S-Kurve, die zwar hübsch barock anmutet, aber auch den Eindruck erweckt, als ob sich die greisen Figuren nicht mehr aufrecht halten könnten. Tatsächlich würden die Bronzen ohne ihre im Boden eingelassenen Haltestifte einfach umfallen.

Nun meinte Lehnerer aber, das Leiden, das diese Figuren buchstäblich verkörpern, wäre eine Chance zur Freiheit. An seinem eigenen Schicksal selbst kann man vielleicht verstehen, was er damit ausdrücken wollte. Durch eine unheilbare Nervenlähmung innerhalb von zwei Jahren zu Tode gekommen, konnte er sich am Ende kaum noch bewegen. Aus den scheinbar unendlichen Möglichkeiten des künstlerischen Ausdrucks, die in ihrer jeweiligen Bevorzugung durch den Künstler sich nur schwerlich legitimieren lassen, blieben Lehnerer schließlich nur die rudimentären Bewegung des Drückens und Knetens mit der linken Hand übrig, mit der er einen menschlichen Kopf formte. Man kann das an einer Plastik in der Ausstellung nachvollziehen, denn dieser Klumpen passt einem genau in die Hand. Die Freiheit, die Lehnerer in dieser Figur meint, ist die von der irritierenden Frage "Warum?" in einer Kunst ohne religiöse Rückbindung.

Es ist die Freiheit, sich zu dem zu bekennen, was dem "homo pauper" (Lehnerer), dem armen Menschen, bleibt: Der Ausdruck der Hand, die Geste der Kunst, der Abdruck des Humanen, der die Zeiten und den Tod überdauert.Galerie Seitz / von Werder, Wielandstraße 34, bis 22. Januar; Dienstag bis Freitag 11-18 Uhr, Sonnabend 11-14 Uhr.

Ronald Berg

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