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Kultur: Plötzlich Liebe

Schlachtfeld Pubertät: „En Garde“ von Ayse Polat

Man sieht sie an und weiß: Die hat keine Chance. Das verquollene Gesicht. Die niedergeschlagenen Augen. Die verdruckste Körperhaltung. Der hässliche rosa Pullover. Alice hat kein Glück gehabt im Leben. Die Mutter, selbst viel zu jung, hat sie verstoßen. Die Großmutter ist gestorben. Und die Tante hat ihr nichts als ein monströses Hirschgeweih vererbt. Kein Wunder, dass so jemand keine Chance auf Freundschaft hat. Zack, ist der Zimmerschlüssel weg, wittern die Mitbewohnerinnen im Heim die Schwäche und nutzen sie sofort aus: „Geld oder Schlüssel“, heißt die Alternative, und: „Wehe, du sagst was.“ Also kein Schlüssel, keine neuen Kleider, bald stinken die alten, der Spitzname ist da: „Assi-Alice“. Und schon ist alles noch schwerer.

Da ist auch Berivan keine Hilfe. Die Freundschaft der beiden Außenseiter beruht auf falschen Voraussetzungen. Alice beklaut die neue Freundin, bringt sie fälschlich in Verdacht, schützt sie vermeintlich – wäre die als asylsuchende Kurdin im Heim Ausgebeutete nicht so grundfröhlich, ihre Freundschaft hätte keine Chance. Doch so klappt es doch noch, entsteht langsam so etwas wie Vertrauen und – im schönsten Moment – ein echtes Lachen. Man verpasst den Zug zusammen, trinkt Kaffee, tollt durch den Wald, ja, Alice beginnt ihrer Freundin zuliebe sogar mit Fechtstunden, bastelt an einem aufwendigen Faschingskostüm und träumt von einem Wunderbaum in Portugal. Da glaubt man fast, dass – gegen besseres Wissen – doch noch alles gut werden könnte.

Eine Kurdin in Deutschland, ein Mädchen im Heim: Auch wenn es um Asyl geht, um Diskriminierung und Abschiebung – „En Garde“, der zweite Spielfilm der Hamburger Regisseurin Ayse Polat, ist kein Film über Türken in Deutschland, wie Fatih Akins „Gegen die Wand“ oder die Filme von Thomas Arslan. Emanzipation, Rebellion, Erwachsenwerden, ja: Aber die Gegner sind nicht die der Tradition verhafteten Eltern, sondern die eigenen Dämonen: Schüchternheit, Angst, Misstrauen. Das Schlachtfeld heißt Pubertät, und selten war es so schmerzhaft nah zu sehen. Maria Kwiatkowsky und Pinar Erincin sind für diese Leistung auf dem Filmfest in Locarno zu Recht gefeiert worden.

Liebe, Freundschaft, Eifersucht – Ayse Polat hält die Emotionen klug in der Schwebe. Was die Heimleiterin, die zu Alice so unerwartet freundlich, zu Berivan so unverständlich streng ist, wirklich will – man weiß es nicht. Wie weit die Freundschaft der beiden Mädchen Zweckgemeinschaft ist, wie weit sie schließlich mehr wird als nur Freundschaft – auch das bleibt offen. Nur eins ist klar: Als Berivan sich schließlich verliebt, in Alices Kindergartenfreund, eskaliert die Situation fürchterlich. Und Alice bekommt ihre große Chance.

Sie, die schwach war, ist plötzlich die Starke. Sie bringt ein großes Opfer – und ist doch zum ersten Mal im Leben Herrin der Situation. Dieses verquollene Gesicht, die niedergeschlagenen Augen, die schüchterne Stimme sind undurchdringlich, schützen sie wie einen Panzer. Angesichts dieser offensichtlichen Schwäche sind alle anderen plötzlich ebenfalls schwach, die hilflose Gerichtspsychologin, die plötzlich um Verständnis werbende Mutter. Nur nützt das nichts: Die Freundschaft zu Berivan ist endgültig vorbei. Ein bitterer Sieg.

Eiszeit, Hackesche Höfe, Kant

Christina Tilmann

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