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Kultur: Pop und Religion

Schon seit Tagen habe ich meine Sevillaner Wohnung und die umliegenden hundert Quadratmeter nicht mehr verlassen. Es ist Semana Santa in Sevilla, übersetzt heißt das etwa Heilige Woche, oder ganz einfach Ausnahmezustand.

Schon seit Tagen habe ich meine Sevillaner Wohnung und die umliegenden hundert Quadratmeter nicht mehr verlassen. Es ist Semana Santa in Sevilla, übersetzt heißt das etwa Heilige Woche, oder ganz einfach Ausnahmezustand.

Hat sich die eine Hälfte der Bevölkerung an den nahen Strand geflüchtet, legt die andere eine für Andalusier ungewohnte Energie an den Tag: Schließlich darf von den mindestens acht täglichen Osterprozessionen keine verpasst werden, und so drängeln sich die Massen durch die engen Altstadtstraßen. Da will selbst der tägliche Gang zum Supermarkt gut geplant sein. Gleich drei Prozessionen versperren mir den Weg - dicht gestaffelt die Holzkreuze der marschierenden Büßer. Ja, stimme ich dem Familienvater im schwarzen Anzug und mit viel Pomade im Haar neben mir zu, die Prozession ist beeindruckend. Aber werde ich das Vorbeiziehen der Jungfrau, bei Weihrauch und 35 Grad Celsius auf leeren Magen noch bei Bewusstsein erleben? Ich beschließe, Konserven zu kaufen.

Die Strassen von Sevilla tragen Namen wie "Die sieben Schmerzen unserer lieben Frau", die Kassiererin Rocio im Supermarkt wurde nach einem andalusischen Wallfahrtsort benannt, und mein Kunstgeschichtsprofessor schritt schon immer auffallend würdevoll durch die Gänge der Universität, das Diamagazin reliquiengleich vor sich tragend. Lag nicht schon letzte Woche ein Zettel im Briefkasten, man solle bitte seine Balkone zu Ehren der vorbeiziehenden Jungfrau schmücken? Aus sicherer Entfernung betrachte ich die Prozessionen von meinem - ungeschmückten - Balkon. Das rhythmische Schlagen der Trommeln klingt von der Strasse und aus der Wohnung unter mir hoch. Meine Nachbarn haben den Fernseher aufgedreht, und wo letzte Woche noch ganz Spanien fieberhaft das Casting für den spanischen Grand Prix-Vertreter verfolgte, wird heute die Semana Santa live übertragen, auf drei Kanälen.

Ob Popkultur oder Religion: Die Begeisterung der Sevillaner ist die gleiche, und sie steckt an. Nachts bewundere dann auch ich schweigend zwischen meinen alten Nachbarn, jungen Ehepaaren mit erschöpften Kleinkindern und Jugendlichen die kerzenerleuchtete Marienstatue, deren Einzug in die Kirche kurz bevorsteht. Von einem Balkon besingt ein alter Zigeuner mit heiserer Stimme die Schönheit der Jungfrau. Und dann ruft ein Junge mitten in die ehrfürchtige Stille hinein: "Super gesungen" und setzt grinsend hinzu: "du hättest das Casting gewonnen!".

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