zum Hauptinhalt

Bayreuth: Hochamt in der Geisterbahn

Am Dienstag enden die Bayreuther Festspiele. Ein Selbstversuch im berühmtesten Orchestergraben der Welt.

Mein HNO-Arzt geht mir bis zum Kinn und heißt deshalb vielleicht Ali-Akbar. Ali, der Große. Alis Leidenschaft sind meine Ohren. „Herr Doktor, ich sitze morgen in Bayreuth, im Orchestergraben, und höre mir Wagners ,Götterdämmerung‘ an. Es wird laut.“ Ali, der Kunstfreund, knurrt. „Muss das sein?“ Alberne Frage. Natürlich muss es sein. Der Verlockung bin ich längst erlegen. Einmal durchs Schlüsselloch des Wagner’schen Gesamtkunstwerks spähen. Einmal Geisterbahn fahren. Wenn nur die Ohren nicht wären. „Nehmen Sie Ohropax. Aus Schaumstoff, nicht die aus Wachs.“ Ali ist kein Wagnerianer. Und ich im Grunde auch nicht. Gute Reise.

360 Kilometer später klopfe ich an die Tür des Bayreuther Orchesterbüros. Frau Matitschka – blond, preußisch, Herrin über die „Grabenkarten“ und ein klein wenig entnervt – befindet, ich sei zu früh. Noch 45 Minuten bis Vorstellungsbeginn. Erregung und Ungeduld stehen mir offenbar ins Gesicht geschrieben.

Ich beschließe, etwas mehr Coolness aufzulegen, und setze mich draußen auf eine Bank. Die Musiker trudeln ein, per Moped oder Fahrrad, viele zu Fuß. Instrumentenkoffer tanzen durch die Nachmittagssonne, lustige, barocke, obszöne Formen. Die Ostseite des Festspielhauses ist Orchesterrevier. Die Gesangssolisten und der Chor gehen seit jeher andere, eigene Wege. Areal gewordene Entfremdung: Die Herren und Damen ausführenden Künstler treffen sich also gar nie, weder vorher noch hinterher und währenddessen schon gleich gar nicht, höchstens zwischendurch mal in der Kantine.

Und später, wenn die „Götterdämmerungs“-Wellen tosen, wird man sich gegenseitig auch kaum richtig hören. Das heißt: Während den Sängern oben auf der Bühne (gefühlte) orgiastische Lautstärken entgegenschlagen, kriegt das Orchester unten im Graben aus der Etage über ihm allenfalls ein Piepsen mit, ein fernes Raunen. Oder einzelne Verse, die der alte Richard in der Partitur entsprechend herausstanzt: Jung-Siegfrieds blökendes „Gunter, wie heißt deine Schwester?“, Alberichs „Schläfst du, Hagen, mein Sohn?“. Der Rest ist eine Frage des Hochamts. Und der Architektur.

Der Orchestergraben des Bayreuther Festspielhauses ist Unding und Unikum zugleich. Ein Schacht, steil ins Hügelinnere getrieben, ein Stollen mit doppeltem Deckel drauf, der eine über den Blechbläsern, der andere über den Streichern. Mystischer Abgrund, sagt der Wagnerianer, wobei das Mystische zunächst der Unsichtbarkeit entspringt. Das Publikum ahnt bestenfalls, was sich da unten zuträgt, es imaginiert, fieberfantasiert, wähnt. Die Musiker ihrerseits schuften in Turnschuhen und kurzen Hosen (es sieht sie ja keiner) wie Sklaven in einer Galeere. 124 Amputierte, Versehrte, jeder sozialen Verantwortung Beraubte. Eine grässliche Allmachts- und Führerfantasie, des Komponisten wie des Dirigenten, über die einzig die Tatsache hinwegtröstet, dass der uneingeschränkte Souverän am Ende das Wagnervolk bleibt. „Ist doch schön“, murmelt Christian Thielemann am nächsten Tag und bestellt sich eine Thunfisch-Pizza mit extra vielen Zwiebeln.

Akustisch freilich ist der Graben aller Gräben eine Wunderkammer. Terrassenförmig angelegt, oben die Streicher, unten das Blech, dazwischen Holzbläser und Harfen, rechnerische 1,129 Quadratmeter pro Person samt Instrument (= 124 Menschen auf 140 Quadratmeter). Viel Platz ist das nicht. Da müssen die Celli ihre Bögen, die Posaunen ihre Züge schon fein hüten, und dass bei den Tutti-Geigern die etwas beleibteren oder mit mehr Haupthaar gesegneten Typen eher an den hinteren Pulten sitzen, versteht sich von selbst. Pragmatisch ist sie, die hohe Wagnerkunst, und aus dem prallen Leben gegriffen. Umso meisterlicher die S-Kurve des Schalls: vom Blech über Holz und Streicher aufsteigend zu den Sängern und erst dann nach draußen sich ergießend, sich ausgießend, in den Saal. Eine Hexenküche ist nichts dagegen.

Zwanzig vor vier, zweiter Anlauf. Es wird ernst, Frau Matitschka begrüßt mich per Handschlag. Eine schnelle Unterschrift, ein Spurt durch den Verbindungsgang zwischen Orchestergebäude und Haupthaus, vorbei an der „Verbrechergalerie“, den Konterfeis sämtlicher auf dem Grünen Hügel jemals tätig gewordenen Dirigenten, und – ich bin drin. Kaltes Neonlicht, eine trockene teerige Schwärze, nichts für Klaustrophobiker. Es riecht erstaunlich sauber. Die vier Hörerplätze auf vier ausrangierten Kontrabasshockern befinden sich vom Saal aus auf der rechten Grabenseite, zwischen Tubaspielern und Harfenisten, spiegelbildlich zu den Pauken, hart in die Ecke gequetscht. Ganz unten ganz hinten also, der Härtetest für passionierte Schlüssellochguckerinnen. Ich denke an verschüttete Kumpels unter Tage und lasse die Basstuba vorbei, ein Instrument wie ein Nilpferd. Ali, hilf.

Die Reihen füllen sich, munteres Tratschen. Unterm linken Arm die Noten, unterm rechten wahlweise die aktuelle Ausgabe der „11 Freunde“, ein dickes Buch oder die Wanderkarte für die nächste fränkische Lustpartie – kein seltener Anblick. Irgendwie muss die Nervosität ja abgebaut werden, außerdem wollen die vielen „tacet“-Stellen in der Partitur überbrückt sein, möglichst ohne Weltuntergang, Heldentod und Liebesverrat. Wie aus dem Nichts ragt plötzlich auch Thielemann auf, bahnt sich seinen Weg durch die Bratschen, winkt hier, scherzt dort, bläst die Backen auf, fährt sich durchs gescheitelte Haar, als wäre da noch etwas in Ordnung zu bringen, und nimmt Platz. Auf diesem Sessel, auf diesem elektrischen Stuhl haben sie alle gesessen, von Furtwängler bis Barenboim, von Toscanini über Carlos Kleiber und Karajan bis Pierre Boulez. Barocke Lehne, geschwungenes Bein. Das Sitzpolster, heißt es, werde jeden Sommer frisch bezogen.

Huch, entfährt es der Dame neben mir, offenbar eine Musikermutter, sie schlägt sich die Hand vor den Mund. Lichtwechsel. Das Neon klappt weg, die Beleuchtung der Notenpulte glimmt auf. Gab es zur Weihe des Hauses 1876 eigentlich schon Gaslampen? Neben Thielemann blinkt jetzt eine ganze Batterie mit Signalen, grün, gelb, rot. Der Kapellmeister hat seine Hände auf die Oberschenkel gelegt, den Kopf gesenkt, die Augen geschlossen. Heiliger Sekundenschlaf, höchste Konzentration, ein Ritual, das sich vor jedem Akt wiederholt.

„Ja, und welches Auto?“, ruft da der Tubist in den fallenden Geräuschpegel hinein, zu spät und zu laut, am liebsten bisse er sich wohl die Zunge ab, die Antwort des benachbarten Harfenisten erstickt bereits die Stille. Thielemann hebt die Arme, die Instrumente werden angesetzt. Das Rotlicht erlischt. Achtung, fordert der Dirigentenstab, oben im Saal herrscht jetzt rabenschwarze Nacht. Und 124 Kehlen holen Luft. 124 Münder, Augenpaare, Nüstern wie stumm zum Schrei geweitet. Geronnene Zeit. Meine Finger umklammern Alis Ohropax. Dann endlich, der Einsatz. Ein düsterer erster Klangorgasmus aus den Urtiefen des Raums, Brünnhildes Erwachens-Motiv, um jenen Übles verheißenden Halbton nach unten transponiert. Und ich weiß, warum ich diese Höllenfahrt angetreten habe.

Weil die Welt hier auf dem Kopf spazieren geht; weil alles vibriert, vom ehrwürdigen Wagnergemäuer bis tief hinein ins eigene Gedärm. Und weil der legendäre Mischklang des Hauses sich hier in lauter rohe Scheite spaltet: Als würde einem lediglich das Mise-en-Place der „Götterdämmerung“ aufgetragen, deren Ingredienzien, nicht aber diese selbst. Als bekäme man Zwiebeln serviert und Thunfisch, aber keine Pizza. Die 124 sorgsam vor Blicken Geschützten nämlich sind hier so nackt, so bloß wie auf keinem anderen Podium. Schon winzigste Unexaktheiten stoßen sich hart im Raum und werden von Thielemann mit einer hoch gezogenen Augenbraue quittiert oder einem schmerzlichen Flunsch. Natürlich lobt er auch, mit Siegerdaumen und vorgeschobener Unterlippe, die Hörner sogar mehrmals, als sie das Siegfried-Motiv wie glitzernden Tau über die Terrassen perlen lassen. Aber welche Pein doch, so genau zu wissen, wie es sich mit einer Partitur verhält.

Nach einem Viertelstündchen sind die Tubisten erst einmal fertig und zwängen sich aus dem Schwarzschlund, dem Uterus, wieder hinaus ins Freie – allerdings nicht ohne ihre Instrumente zuvor ausgiebigst vom Spuckwasser befreit zu haben. Das zärtliche Läuten und Klingeln und Klappern der Ventile dabei, Nass, das auf Nass sickert und tröpfelt: Musikmachen ist eine intime Angelegenheit. Da darf man sich vor Körpersäften nicht scheuen.

Spätestens als Hagen oben auf der Bühne Jung-Siegfried einseift, sind die Tuben wieder zurück. Wer nun denkt, diese kräftigen Kerle, die allesamt, pardon, ein bisschen wie Sportreporter aussehen, hätten in der Zwischenzeit eine Runde Skat geklopft oder eine Bratwurst verdrückt, der irrt. Noch in den einstündigen Aktpausen wird hier geübt, geübt und nochmals geübt: hingebungsvoll, obsessiv. Wie Fische hocken sie hinter den 70er-Jahre-Aquariumsfenstern ihres Orchesterbungalows und schnappen nach Luft. Zu viert, zu fünft, allein. Im Graben müssen trotzdem alle sichtbar Hausausweis tragen, man weiß ja nie, und auch die vier stolzen Grabenkartenhalter des Abends werden zu Beginn des zweiten Aktes streng kontrolliert. Das Betreten der Kantine sei „nur beschränkt gestattet“, lese ich im Kleingedruckten, und überhaupt erfolge der Besuch der Vorstellung ganz „auf eigene Gefahr“.

Der Musiker als solcher übrigens scheint sich weder vor sich selbst noch vor etwaigen lärmigen Nachbarn schützen zu wollen. Kaum einer trägt hier Stöpsel im Ohr, nur die Flötistin hält sich bisweilen mit spitzen Fingern die Ohren zu. Beim „Hoiho!“ der Gibichungen im zweiten Akt, bei Siegfrieds Tod und Trauermarsch im dritten wird es dann tatsächlich richtig ordentlich laut, pechschwarzes c-Moll, Lavabrocken in dreifachem Fortissimo, mit aufgerissenen Leibern taumeln die Leitmotive durch den Raum. In meinen Gehörgängen prickelt es wie Brausepulver. Kurz vor Ende wallt dann Trockeneis von der Bühne herab, ein gespenstisches Bild, wie die Pultlampen plötzlich kleine Kegel werfen, der Graben als Lichtdom. Ein letztes Luftholen, ein letztes Flattern der Rachensegel, Gänsehaut – und Schluss.

22 Uhr 45, Applaus, nie war die „Götterdämmerung“ so kurz. Und die Ohren so weit. Während die Orchesterwarte unten längst ihrer Arbeit nachgehen, umrüsten für den nächsten Tag, Zettelchen kritzeln und kleben, Instrumente vertäuen und wegrollen, streben die Musiker hinaus zu ihren Mopeds und Fahrrädern. Ein schmales Häuflein drängelt sich vorne unterm Deckelrund, feiert seinen Kapellmeister, dem es in den vergangenen Stunden so nah war, wie Menschen sich nur nah sein können. Thielemann ist flink in den Frack geschlüpft, steht jetzt oben, baumelt glücklich-verschwitzt am bleigraugrünen Festspielhausvorhang, nimmt die Ovationen entgegen, schaufelt sie mit langen Armen hinunter in den sich leerenden Graben. „Ich bin ihnen gut, diesen untergeordneten Wesen der Tiefe, diesen sehnsüchtigen“, so beschließt Richard Wagner seine Arbeit an der „Götterdämmerung“. Ich schreibe die Worte auf eine Postkarte. An Ali, den Großen, mit beseelten Grüßen.

Christine Lemke-Matwey[Bayreuth]

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false