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Konzertkritik: Grizzly Bear: Nervöser Wohlklang unter Einweckgläsern

Im Postbahnhof riskieren Grizzly Bear den Spagat zwischen pastoralem Folkrock und experimentierfreudigem Art-Pop.

Das geht ja gut los am Martinsabend: St. Vincent ist der Künstlername von Annie Erin Clark, einer mädchenhaften 27-Jährigen, die sich allein in den dramatisch beleuchteten Trockeisnebel stellt und mit virtuos gelooptem Gitarrengezupfe und im Sampler vervielfachtem Gesang graziös gestelzte Songskizzen zusammendrechselt.

Große Klasse und doch nur Vorprogramm im rappelvollen Postbahnhof. Der Andrang gilt Grizzly Bear, die drei Jahre nach einem desaströsen Berlindebüt die Glücksversprechen ihres grandiosen dritten Albums „Veckatimest“ einlösen wollen. Die vier jungen Männer, wie St. Vincent im kreativen Mikrokosmos von Brooklyn beheimatet, treffen mit ihren komplexen Prog-Folk-Suiten gleich mehrere Geschmacksnerven: Die mehrstimmigen Gesangssätze erinnern an die Indie-Konsensband des letzten Jahres, die Fleet Foxes. Doch unterwandern Grizzly Bear deren pastoralen Wohlklang mit einer nervösen Eigendynamik, die mehr mit den kühnen Art-Rock-Entwürfen ihrer Stadtteilmitbewohner Yeasayer zu tun hat.

Drummer Christopher Bear wühlt sich zuckend durch verwinkelte Rhythmusmuster, während Chris Taylor flinkfingrig über die Basssaiten schnippt oder vor einem bodennahen Mikrofon kauert, um mit der Bassklarinette nebelhornartige Wellenbrecher in den reißenden Notenfluss zu rammen. Daniel Rossen und Bandgründer Ed Droste teilen sich Lead-Gesang, elektronisches Gerät und diffizile Gitarrenarbeit, wobei Rossen verkniffener wirkt als der leutselige Droste, der in seinem nach eigener Einschätzung „total schlechten Deutsch“ – er war vor fast zehn Jahren mal eine Weile in Berlin – ein paar launige Ansagen absondert.

Der artistische Seiltanz zwischen Kunstanspruch und Eingängigkeit gelingt nicht immer: In den schwächeren Momenten des rund 80-minütigen Auftritts gniedeln sich Grizzly Bear ein paar wenige Male zu sehr in ein retrospektiv stocherndes Nirvana hinein. Immerhin kann man sich selbst dann noch über eine brillante Lichtregie und das stimmungsvolle Bühnenbild mit festlichen Leuchtern aus umfunktionierten Einweckgläsern freuen. Im Idealfall aber ergibt das furchtlose Suchen zwischen gegenläufigen Grundgestimmtheiten fantastische Hybriden wie „Two Weeks“ oder „While you wait for the Others“: Würde man Totensonntag in die Disko gehen, sollten dort ausschließlich solche Lieder laufen.

Jörg W, er

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