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Der Sänger von Wilco Jeff Tweedy

© dpa

Konzertkritik: Trost und Ekstase

Für Jörg Wunder ist es vielleicht die beste Band der Welt: Wilco begeistern im Berliner Admiralspalast.

Von Jörg Wunder

Wenn man versucht, den Genuss eines einzigartigen Erlebnisses zu wiederholen, läuft man stets Gefahr, enttäuscht zu werden. Von daher hätten beim Konzert von Wilco eigentlich alle zu Hause bleiben müssen, die vor drei Jahren Zeugen ihres fantastischen Auftritts im Kesselhaus waren. Unmöglich, diese Perfektion und Intensität zu konservieren, oder?

Das Sextett aus Chicago nimmt die Herausforderung an, auch wenn die Rahmenbedingungen im ausverkauften Admiralspalast ihrer kontrollierten Ekstase weniger zuträglich sind: Im bestuhlten Auditorium springt der Funke erfahrungsgemäß nicht so leicht über. Doch schon beim programmatischen Opener „Wilco (The Band)“ machen sie deutlich, dass dies kein Abend zum Abhängen im Theatersessel wird. Der knurrende Bass-Drum-Malstrom erinnert an den wütenden Minimalismus von Velvet Underground, die Drei- Gitarren-Armada setzt erste Akzente, Jeff Tweedy intoniert inbrünstig eine Lebensunterweisung für die Fans: Wenn es euch mal mies geht, hört unsere Lieder, und ihr werdet getröstet sein.

Klingt anmaßend, ist es aber nicht. Denn jeder einzelne der zwei Dutzend Songs, die Wilco in zwei Stunden anstimmen, ist eine Sternstunde der Popmusik. Da gibt es sonnendurchflutete Westcoast- Psychedelia wie „You are my Face“, die ganze Weite des Mittelwestens in waidwunden Harmoniegesängen einfangende Americana wie „One Wing“, urban angegroovte Gitarrenheuler wie „Bull Black Nova“ oder die Country-Schnurre „Via Chicago“, in deren liebliches Geschunkel Drummer Glenn Kotche mit infernalischem Gehämmer hineingrätscht, während Tweedy ungerührt weiterschmalzt.

Und es gibt „Impossible Germany“, eine lodernde Ballade, bei der sich Gitarrist Nels Cline solierend zu einer so hinreißenden Kombination von Tönen aufschwingt, dass es die Leute von den Sitzen reißt. Cline ist ein Beispiel für die integrative Kraft der Band: früher ein zum Narzissmus neigender Experimentalfrickler, entwickelte er sich seit seinem Wilco-Beitritt vor sechs Jahren zum Teamplayer, der sein unfassbares Können nicht mehr in jedem Song demonstrieren muss, sondern auch einen weniger versierten Kollegen wie Tweedy neben sich glänzen lassen kann.

Als Gitarrist mag Jeff Tweedy nicht zur Weltspitze gehören, aber was für ein großartiger Sänger ist er mittlerweile. Sein Organ hat einen dunklen, samtigen Glanz und die selbstverständliche Autorität großer Rockstimmen. Mehr als einmal muss man an Michael Stipe oder den späten John Lennon denken. Wie überhaupt Wilco eigenwillige Was-wäre-wenn-Assoziationen wecken: Hätten sich die Beatles 1970 nicht getrennt, sondern Paul McCartney ersetzt und einen herausragenden Gitarristen sowie einen Keyboarder hinzugewonnen, hätten sie Mitte der Siebziger so ähnlich klingen können wie Wilco 2010. Also wie die beste Band der Welt.

Dass diese auch mal Nerven zeigt, macht sie fast noch sympathischer: Nach einer guten Stunde wird der große Schweiger Jeff Tweedy leutselig und richtet eine Grußadresse an seine ausdauernd zwischenrufenden Landsleute: „We love you American followers. But we came here to play for Germans.“ Schließlich kabbelt er sich mit einem direkt vor der Bühne dreist das Filmverbot ignorierenden Gast, was ihm ein wenig die Laune verhagelt.

Nach dem Zugabenkracher „Heavy Metal Drummer“ schnallt sich Cline schon die nächste Gitarre um, doch Tweedy gibt das Signal zum Aufbruch. Egal, dieses Ausnahmekonzert verträgt auch ein minimal disharmonisches Ende. Jörg Wunder

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