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Konzertkritik: TV On The Radio: Die beste Brillenträgerband der Welt

Auch nach Buddy Holly, Elton John, Elvis Costello und Heinz Rudolf Kunze bleiben Brillenträger eine Randgruppe in der Popmusik. Bei TV On The Radio tragen drei von fünf Mitgliedern eine Sehhilfe, aber das ist nicht das ungewöhnlichste an dieser Band, die jetzt im SO36 auftrat.

Dass sie aus vier Schwarzen und einem Weißen besteht und dennoch in der Summe aller Einzelteile eher „weiße“ Rockmusik spielt, auch nicht. Sogar, dass die Brooklyner stilistisch kaum zu kategorisieren sind und sich jeder szenemäßigen Vereinnahmung entziehen, ist zwar toll und mutig, aber experimentell sind auch andere.

Hünenhaft, geschmeidig

Das Sensationelle an TV On The Radio ist nicht so sehr das Was, sondern das Wie. Etwa, wie Sänger und Brillenträger Tunde Adebimpe im ausverkauften SO36 seinen hünenhaften Körper in geschmeidige Tanzbewegungen versetzt und mit seiner leicht nasalen Stimme die komplexen Melodiebögen nachzeichnet, um dann bei den Wortkaskaden von „Dancing Choose“ in eine Raserei zu verfallen, die an legendäre Soul-Shouter wie Otis Redding erinnert.

Oder Kyp Malone, Brillenträger 2: Der durch üppige Haar- und Barttracht gekennzeichnete Gitarrist und Co-Sänger wird bei schnelleren Stücken zum kleinen Springteufel und drischt zu Jaleel Buntons muskulösem Getrommel entfesselt auf die Saiten ein, von denen er im Laufe des Abends gleich mehrere zerspielt.

Schließlich Dave Sitek, Brille Nummer 3: Selten war eine Gitarre mehr Werkzeug als bei ihm, denn das Band-Weißbrot häckselt nicht nur polyphon gleißende Akkordfolgen auf seiner Telecaster, sondern misshandelt das gute Stück auch mit allem, was ihm grad in die Hände fällt: Rasseln, Schellenkranz, Trommelsticks.

Auch was für den Mainstream

Bei der Zugabe „Let the Devil in“ holen TV On The Radio nochmal die gute Vorband White Circle Crime Club auf die Bühne, der Song mutiert zur wüst groovenden Geisterbeschwörung eines durchgeknallten urbanen Indianerstammes. All das Sonderliche, Freakige fließt aber immer wieder zu grandiosen Rock-Momenten zusammen, zu Hymnen, von denen es zur Zeit kaum bessere gibt: Hits wie „Wolf like me“, „Satellite“ oder das nach grandiosen 75 Minuten das Publikum noch einmal zu einem gewaltigen Tosen und Toben anstachelnde „Staring at the Sun“ sollten endlich vom Mainstream entdeckt werden, damit TV On The Radio so groß wie U2 und Coldplay werden. Verdient hat es die beste Brillenträgerband der Welt allemal.

Jörg W, er

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