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© dpa

Schlingensief in Bayreuth: Der letzte Liebende

Christoph Schlingensief verabschiedet sich mit seinem „Parsifal“ aus Bayreuth – und will unbedingt wiederkommen.

Ohne Saalschlacht geht es auch diesmal nicht. Die Buhrufer schreien sich die Stimmbänder wund, die Fans klatschen mit erhobenen Händen, überall sind Leute aufgesprungen, um den Auftritt des Regieteams besser sehen zu können. Da winkt Christoph Schlingensief von der Bühne – und viele, viele winken zurück. In seinem vierten Jahr ist sein „Parsifal“ zwar kein Klassiker geworden, wie 1980 der von den konservativen Wagnerianern zunächst so wütend bekämpfte „Jahrhundert-Ring“ des Patrice Chéreau. Aber die Produktion ist nahe am Kult. Weil aus der wüsten Vision des Premierenjahrs ein tief bewegender Theaterabend geworden ist. Weil Schlingensief in seinem heiligen Ernst die Herzen des Publikums gewinnt.

Natürlich stimmt, was ein erboster Spanier am Ende des zweiten Aktes ruft: „Loco!“ Dieser Regisseur ist ein Verrückter – und deshalb genau der Richtige für die Bayreuther Wagner-Festspiele. Und für den „Parsifal“, diese Zeit und Raum aufhebendeWeltumarmung. Schlingensief wirft die gesamte christliche Ikonografie über Bord – und doch kann man das Stück kaum religiöser auffassen als er, kaum mythischer, allumfassender. Das vom Lichtdesigner Voxi Bärenklau durch eine barocke Trompe- l’oeil-Technik aller rationalen Nachvollziehbarkeit enthobene Spektakel ist eine wirkliche Feier. Hier geht es um die letzten Dinge.

Der Tod ist immer rätselhaft, hat tausend Gesichter – genau davon erzählen die Videos von Meika Dresenkamp. Vieles erkennt man nur flüchtig, weil wuchernde Ornamente, Fotoprojektionen und Filme sich meist überlagern. Auch der Multikultimix der Gralsgesellschaft ist hinter dem Leinwand-Gazeschleier nur zu erahnen. So entsteht ein Zaubergarten moderner Albträume wie sie womöglich in Flüchtlingscamps und Favelas geträumt werden. „Die Bilder werden bleiben“, haben die Bühnenbildner Daniel Angermayr und Thomas Goerge in JonathanMeese-Manier auf eine der Bretterbuden gepinselt. Wie wahr.

Die Bayreuther Festspiele müssen in den kommenden drei Jahren ein Defizit von 1,6 Millionen Euro verkraften. Die staatlichen Zuschüsse sind seit Jahren nicht der Inflationsrate angepasst worden, da entsteht bei einer festgeschriebenen Zahl von 30 sommerlichen Aufführungen und einem deshalb konstanten Umsatz von 17 Millionen Euro im Wirtschaftsplan schnell ein Minus. Die Gesellschaft der Freunde von Bayreuth hat zugesagt, die Summe auszugleichen, und wer mag, kann auch ein Statement des FDP-Politikers Hans-Joachim Otto als positives Signal einer anstehenden Subventionserhöhung deuten: „Kultur“, hat der Vorsitzende des Bundestags-Kulturausschusses jüngst bei einem Bayreuth-Besuch gesagt, „findet nicht nur in Berlin statt“.

Von einer Finanzkrise mag Festspiel-Pressesprecher Peter Emmerich auch gar nicht sprechen. Und von einer künstlerischen Krise will Clan-Chef Wolfgang Wagner sowieso nichts wissen. Dennoch wird Schlingensiefs „Parsifal“ nach nur vier – statt wie sonst üblich fünf – Jahren aus dem Spielplan genommen und bereits im kommenden Sommer durch eine Neuproduktion mit dem italienischen Dirigenten Daniele Gatti und dem norwegischen Regisseur Stefan Herheim ersetzt. Wenn sich die Festspielleitung da mal nicht vergaloppiert hat. Denn nach all den Routiniers, Fotorealisten, Schaumschlägern, Experimentierfreudigen, Entschleunigern oder schlicht Fehlbesetzungen der letzten Jahre ist Herheim ein illusionsloser Analytiker, ein ehrgeiziger, methodisch herzkalter Stückezerleger, dem definitiv nichts heilig ist.

Christoph Schlingensief hingegen, das hat sein „Parsifal“ am Freitag noch einmal auf ergreifende Weise deutlich gemacht, ist der letzte große Liebende auf dem Grünen Hügel von Bayreuth seit Heiner Müller. Ein Besessener, der den so oft beschworenen und so selten genutzten Werkstattcharakter der fränkischen Festspiele beim Wort nimmt. Dass die Regisseure hier gebeten sind, vor jeder Wiederaufnahme an ihrer Interpretation weiterzuarbeiten, hat Schlingensief nicht als Fron, sondern als echte Chance begriffen – und genutzt. Im vierten Jahr ist seine szenische Installation zur auch psychologisch erhellenden Inszenierung gereift, haben die Figuren, zunächst mehr Behauptung als Charakter, ein menschliches Antlitz erhalten. Die Sänger leben ihre Partien mit jeder Faser ihres Körpers, Alfons Ebertz als Parsifal und Jukka Rasilainen als Amfortas wagen es, ihren Schmerz herauszuschreien, Evelyn Herlitzius singt eine geradezu expressionistische Kundry. Robert Holl verströmt sich wundermild und macht aus Gurnemanz eine Mosesgestalt, wie Schlingensief sie sich wohl erträumt hat. Im Graben schließlich beglaubigt Adam Fischer durch einen betörenden, mit der kosmischen Unausweichlichkeit des endlosen Ozeans auf und ab wogenden Orchesterklang die humanistische Botschaft des Bühnenweihfestspiels.

„Bayreuth hat mir ungeheure Möglichkeiten eröffnet und mir eine Beherrschung meiner selbst beschert“, resümiert Schlingensief seine Hügel-Erfahrung im „Nordbayerischen Kurier“. Und natürlich will er wiederkommen, in ein paar Jahren, wenn er noch mehr dazugelernt hat. Gerne würde er den „Tristan“ inszenieren. Weil er das aus der Zeit gefallene Festival liebt, mit seiner Konzentration auf das Werk eines einzigen Künstlers, seines Seelenverwandten Wagner. Forderungen, den Kanon zu öffnen oder Bayreuth mit einem Off-Festival zu konfrontieren, hält er für Quatsch. „Um junge Leute heranzuholen, braucht man diesen Firlefanz nicht. Da braucht man nur die Tür in Bayreuth aufzumachen. Das ist wie Cape Canaveral.“

In Schlingensiefs „Parsifal“ entflieht Karsten Mewes’ Klingsor schlussendlich dem irdischen Jammertal mit einer Rakete. Zu neuen Taten, teurer Helde!

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