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Arcade Fire mit Sänger Win Butler (rechts)

© Label

"The Suburbs": Arcade Fire besingen die Tristesse der Vorstädte

"The Suburbs", das lange unter Verschluss gehaltene Album von Arcade Fire, wird einen durch das Jahr begleiten. Es ist eines jener Alben, die mit jedem weiteren Hören wachsen können.

Wo sind die ganzen Feinde hin? Vor drei Jahren ging es noch gegen die Großen. Gegen die Heuchler, die christliche Rechte, immer wieder gegen George W. Bush. Jetzt wird aus Fenstern geguckt. Gewartet, ob vielleicht was passiert, hingenommen, dass wieder nichts passiert. Ein Leben geführt, in dem es zu den spannendsten Optionen gehört, sich die Haare lang wachsen zu lassen.

Der Schnitt ist nicht zu überhören auf „The Suburbs“, dem dritten Album von Arcade Fire, des zur Überband aufgeblasenen Indie-Septetts aus Montreal. Ausufernd waren nicht nur ihre Shows mit bis zu 15 Musikern auf der Bühne, sondern auch Pathos und Bombast ihrer Stücke. Arcade Fire war die Band, die einen mit so viel Gefühl durchfluten wollte, dass es manchmal kaum auszuhalten war. Dass man sich unwillkürlich gegen die einprasselnde Euphorie wehren musste, aus Angst, sonst zu explodieren. Arcade Fire war die Band, bei der Melodien marschierten. Bei der Freudenchöre im stampfenden Takt daherkamen wie in der Hymne „Wake Up“ aus dem Jahr 2005.

Es war ihnen selbst alles zu viel. Zu viel Agitation, zu viel schlauchender Tourneezirkus und zu viel Vereinnahmung auch. Die schulterklopfenden Hände, die zahllosen Listen, die Arcade Fire zur wichtigsten Band des Universums kürten oder wenigstens des Jahrzehnts. Deshalb die Pause. Sänger und Songschreiber Win Butler wollte mal wieder spüren, wie kalt der Winter in Montreal sein kann.

Sie haben einigen Druck rausgelassen auf „The Suburbs“. Und es scheint bloß konsequent, dass sich das dritte Album thematisch wieder nahe am Debüt „Funeral“ orientiert. Die Motive heißen Kindheit, Unschuld, auch die Aussicht, beides zu verlieren. Als Bezugspunkt diente dabei die Heimat Win Butlers und die seines jüngeren Bruders William, der bei Arcade Fire den Bass spielt. The Woodlands ist eine Satelliten-Stadt von Houston, Texas, mit einer Shopping-Mall und sieben Golfplätzen. Gut behütet aufgewachsen zu sein, ist keine Schande.

„Here, in my place and time/ And here in my own skin/ I can finally begin“, singt Butler in „Deep Blue“. Das Vorstadt-Setting zieht sich durchs gesamte Album, ständig sind es „the kids“, die Zeit vergeuden und darauf warten, dass sie den Führerschein machen dürfen, dass die Liebe daher kommt, dass ihr Leben beginnt. Das eigentlich Wertvolle am Vorstadtdasein ist die Sehnsucht nach Veränderung. „So grab your mother’s keys/ We leave tonight“, heißt es in „Suburban Wars“, einem Kernstück des Albums. Die Schlüssel nehmen und abhauen. Aber man macht es nie. Das richtige Leben besteht womöglich darin, auf das vermeintlich richtige Leben zu warten.

Die musikalische Bandbreite des Albums überrascht, folkige Kompositionen wie „Wasted Hours“ und das schwermütige „Sprawl I (Flatland)“ wechseln sich mit Rocknummern ab, die Geigen kommen nur spärlich zum Einsatz. Beim stadiontauglichen „Empty Room“ muss man fürchten, dass U2 es wieder für ihre eigene Tour verwursten, wie sie es schon mit „Wake Up“ getan haben. Es findet sich auch ein Vier-Akkord-Punkrockstück auf der Platte, „Month of May“ war laut Band der simpelste, aber auch schwierigste Song des Albums, weil sieben Musiker nunmal sieben Instrumente einbringen wollen, mindestens.

Arcade Fire haben „The Suburbs“ lange unter Verschluss gehalten, Journalisten lediglich unter Bewachung vorspielen lassen. Sie wollten verhindern, dass es vor dem offiziellen Erscheinungstermin ins Internet gelangt, so wie es bereits der befreundeten Montreal-Band Stars mit ihrer Platte „In Our Bedroom After the War“ ergangen war, was sie an den Rand des finanziellen Ruins trieb. Auch die jüngste Veröffentlichung der Broken Social Scene aus Toronto fand nur verhaltene Resonanz, der Hype um die sich gegenseitig befruchtenden Indierock-Kollektive Kanadas schien dahin. Zwingend klang zuletzt höchstens Elektro-Geiger Owen Pallett alias Final Fantasy, selbst erweitertes Mitglied von Arcade Fire, der nun auch die Violinen arrangierte.

Nein, „The Suburbs“ wird nicht kanonisch werden, auch wenn das viele jetzt behaupten. Doch es ist eines der großen Alben, die einen durchs Jahr begleiten werden und mit jedem weiteren Hören noch wachsen. Wäre da bloß nicht „Sprawl II (Mountains beyond Mountains)“, das letzte Stück, eine missratene Reminiszenz an Abba, ein schlechter Witz von einem Song. Man möchte es dieser Band sofort nachsehen. Aber vielleicht ist es, so prominent platziert, auch Selbstschutz. Gegen die Schulterklopfer und gegen die Listen.

Am Donnerstag spielt Arcade Fire im Madison Square Garden, das Konzert wird live per Stream übertragen. Im Internet: www.arcadefire.com

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