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Udo Lindenberg

© Davids/Darmer

Udo Lindenberg: So groß mit Hut

Deutschland ist endlich wiedervereinigt: Udo Lindenberg ist zurück in Berlin. Und präsentiert sich bei einem grandiosen Auftritt in der Max-Schmeling-Halle.

Wer weit genug in die Zukunft fliegt, landet irgendwann in der Vergangenheit. Fortschritt verläuft schleifenförmig, vor allem in der Kunst. Düsteres Syntheziserbrummen erfüllt die Berliner Max-Schmeling-Halle, ein schnarrender Countdown setzt ein. Feuerfontänen explodieren, dann schwebt per Fahrstuhl ein Astronaut von der Decke herab: Es ist ein Besucher aus einer fremden Galaxie, der Engel der Musikgeschichte. Als er die mit Trockeneisnebel geflutete Bühne betritt, ist dies bloß ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein großer für den Deutschrock. Assistentinnen helfen ihm aus dem Helm, der übergroß ist, damit auch der Hut Platz hat. Er singt „Woddy Woddy Wodka“, seine scheppernde Ballade über einen Raumfahrer, dessen Treibstoff der Alkohol ist. Udo Lindenberg ist zurück. War er jemals weg?

Lindenberg, das inzwischen 62-jährige Rock’n’Roll-Strichmännchen mit der gesichtsfüllenden Sonnenbrille und dem obligatorischen Hut, ist der Sänger der Stunde. Nach Jahren, in denen er hauptsächlich mit dem Malen sogenannter „Likörelle“ in der Bar des Hamburger Hotels Atlantic beschäftigt war und zu seiner eigenen Parodie zu werden drohte, gelang ihm im März 2008 mit der CD „Stark wie Zwei“ ein furioses Comeback. Mit der Platte, bei der ihm Kollegen wie Jan Delay und Helge Schneider halfen, eroberte er erstmals in seiner 40-jährigen Karriere Platz 1 der deutschen Albumcharts.

Live ist von der sanften Hip-Hopisierung des Lindenberg-Sounds nichts zu spüren. Sein sechsköpfiges Panikorchester, angetreten fast in der Urbesetzung, scheint einer Zeitkapsel zu entsteigen, die etwa um das Jahr 1982 geschlossen worden sein muss. Der Leadgitarrist spielt in breitbeinigen Posen auf seinem sternenförmig gezackten Instrument exakt jene vanhalendisierenden Soli, die eigentlich seit einem Vierteljahrhundert streng verboten sind. Sein Kollege an der Rhythmusgitarre trägt einen fersenlangen Staubmantel wie aus einem Clint-Eastwood-Western, Drummer Bertram Engel tarnt sein Pokerface mit einer Nickel-Sonnenbrille.

„Wir machen unser Ding“, nölt Lindenberg zwischen „Boogie Woogie Mädchen“, einem Klassiker von 1983, und dem neuen Song „Mein Ding“ anstatt einer Begrüßung ins Mikrofon. Die 9000 Zuschauer in der ausverkauften Halle erleben eines der grandiosesten, bewegendsten und nicht zuletzt lautesten Berliner Konzerte der letzten Jahre. Oder, um es mit den Worten des Meisters zu sagen: zweieinhalb Stunden lang „die volle Honkytonkshow“.

Nicht umsonst hatte eine Durchsage vor Beginn gewarnt: „Wenn Sie Ihren Sitzplatz erreicht haben, machen Sie sich bitte mit dem nächstgelegenen Rettungsweg vertraut.“ Gekommen sind Mädchen aus Ost-Berlin mit blondierten Strähnen in den ergrauenden Haaren, Mehr-Generationen-Trupps aus Vater, Mutter, Kind, einige Punks und Lindianer im Outfit des Idols. Proletarische Vokuhila-Frisuren finden sich neben penibel rasierten Glatzköpfen. Und selten sah man so viele Menschen mit Tränen in den Augen komplette Liedtexte mitsingen.

Deutschland will gerockt werden. Wo Milliardenwerte zerbröseln und die Banken wanken, da wächst die Sehnsucht, sich an der ehrlichen Simplizität geradliniger Gitarrenriffs festzuhalten. Wir brauchen wieder den pianoklimpernden Boogierock von „Andrea Doria“, die verwaschenen Synthiestreicherteppiche und Gänsehautmomente von „Sie spielte Cello“ und den AC/DC-Knüppel-Rhythmus von „Straßen-Fieber“. So schlecht waren die siebziger Jahre nicht, da hat Lafontaine recht, eine Dekade, in der parallel zum Ausbau des Sozialstaats die Lautsprechertürme der Livebands ins Megalomane wuchsen. „Meine Methusalems aus der Frischhaltetüte“, so nennt Lindenberg seine Gruppe.

Storchig tänzelt der Sänger immer wieder auf einem Laufsteg in den Innenraum der Halle, wo sich die „U-do, U-do!“ skandierenden Fans aneinanderpressen. Die am Bühnenrand versteckten Bildschirme, über die seine Liedtexte flimmern, braucht er gar nicht, denn – so sagt er – „ich hab’ ja euch“, seine jede Zeile lauthals begleitenden Anhänger. Lindenberg ist im unverwechselbaren Lindenberg-Dresscode erschienen: Röhrenjeans, silberner Nietengürtel, superschmaler Schlips und das schwarze Kellnerjackett tauscht er später gegen einen blauen Zirkusdirektorenmantel. Seine schwarze Jeans hat einen grauen Streifen an der Seitennaht, eine Reminiszenz an jene Zeit, als ganze Schulklassen entlang solcher ästhetischer Differenzen in Popper, Punks und Progos zerfielen.

Lindenberg-Konzerte waren früher Freakshows, daran erinnern die Komparsen, die zu „Der Greis ist heiß“ an Krückstöcken über die Bühne humpeln, und die Sängerin, die zu „Wenn du durchhängst“ Rad schlägt. Seine Hits erzählen eine kleine Mentalitäts- und Kulturgeschichte Nachkriegsdeutschlands. „Daumen im Wind“ handelt vom Freiheitsdrang der Tramper (trampt heute noch jemand?), „Mädchen aus Ost-Berlin“, der Höhepunkt des Abends, ruft noch einmal das Drama der Teilung auf.

Lindenberg erzählt, wie er vor 25 Jahren „vor den ganzen schrägen Vögeln der Stasi und den anderen Steiftieren“ im Palast der Republik singen, aber dann doch nicht auf Tournee durch die DDR gehen durfte. Die Hit-Ballade „Hinterm Horizont geht’s weiter“ zelebriert er mit „Silbermond“-Sängerin Stefanie Kloß. Sie tanzt um ihn herum, windet FalsettSoul-Girlanden um seinen Scatgesang, am Ende umarmt der Mann aus Gronau/Westfalen das Mädchen aus Bautzen und gibt ihr einen väterlichen Kuss. Endlich: Deutschland ist wiedervereinigt.

Merkel, Müntefering, Gysi aufgepasst: Udo Lindenberg muss für die Bundesversammlung nachnominiert werden. Deutschland braucht jetzt einen Panikpräsidenten.

Für das Zusatzkonzert am Samstag in der Schmeling-Halle gibt es noch Karten.

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