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Kultur: "Portrait of the Families": Rausch in Rot

Als Lin Hwai-min einmal im Fotoalbum seiner Eltern blätterte, traf es ihn wie ein Schock. Eine japanisch aussehende Familie blickte ihm entgegen.

Von Sandra Luzina

Als Lin Hwai-min einmal im Fotoalbum seiner Eltern blätterte, traf es ihn wie ein Schock. Eine japanisch aussehende Familie blickte ihm entgegen. Dieses private Erlebnis war der Auslöser für das Stück "Portrait of the Families". Der taiwanesische Choreograph stöberte in den Fotoarchiven seiner Landsleute und stieß überall auf Dokumente eines verdrängten Geschichtskapitels: Als der Zweite Weltkrieg mit der Niederlage der Japaner endete, hatten diese Taiwan 50 Jahre lang wie eine Kolonie regiert. Sie usurpierten auch das Gedächtnis: Die Eltern wagten damals ihren Kindern nicht zu erzählen, dass ihre Vorfahren aus China stammten. 1997 kam "Portrait of the Families" heraus - in dem Jahr wurde auch des 50 Jahre zurückliegenden Massakers gedacht, mit dem die von Maos Truppen vertriebene Kuomintang den Widerstand der Taiwaner blutig niederschlug. Lin Hwai-min war einer der ersten, der diese tabuisierten Themen auf der Bühne verhandelte: Behutsam hat er geheime Bewusstseinskammern geöffnet; sein Stück zeigt die Konstruktion eines kollektiven Gedächtnissses.

Das Cloud Gate Dance Theatre aus Taipeh ist durch zwei Gastspiele in Berlin bekannt: Das traumschöne "Moon Water" basiert auf einem chinesischen Poem, "Song of The Wanderers" ist eine anmutige wie asketische Bewegungsmeditation des praktizierenden Buddhisten Lin Hwai-min. Beim Festival "Theaterwelten" stellte sich nun ein eminent politischer Choreograf vor, der seine Arbeit auf die Begriffe insistence und resistence (Beharren und Widerstand) bringt. In "Portrait of the Families" passieren 100 Jahre Geschichte in 100 Minuten Revue, allerdings erwartet die Zuschauer keine trockene Geschichtslektion. Eindrucksvoll die vielen Schwarzweißfotografien: Wer die Zeichen zu lesen versteht, sieht ein kolonisiertes, zwangsuniformiertes Volk. Was die Fotos nur andeuten, kommt in den Interviews zur Sprache. Die befragten Menschen erzählen von den Grausamkeiten der Japaner, von den Morden der Kuomintang und der amerikanischen Bombardierung. Die Texte im Programmheft nachzulesen, lohnt auf jeden Fall. Der Tanz will nicht illustrieren. Lin Hwai-min greift zu symbolischen Bildern. Ein Rausch in Rot. Taiwan als eine traditionell gekleidete Braut, die an einer Nabelschnur stolpert. Eine Frau wird zwangsweise in chinesische Gewänder gesteckt: Zuerst wie in Trance, dann mit Trotz zerpflückt sie Päonienblüten - die chinesische Blume par excellence. Die Ensembleszenen zeigen ein Kollektiv unter Zwang, wo immer wieder einer auf der Strecke bleibt. Wie schwarze Kapuzen streifen sich die Tänzer ihr Hemd über: die verhüllten Gesichter der Exekutierten. Beim gemeinsamen Zähneputzen werden die Akteure von einer Kommando-Stimme angetrieben.

In solch konkreten Szenen vermittelt sich am deutlichsten, wie sich Unterdrückung und Gewalt in die Körper einschreiben. Gleichzeitig flüchtet sich Lin Hwai-min in eine pathetische Schmerzensästhetik, die das Leid fast zur religiösen Passion stilisiert. In der Schlussszene ziehen Laternen in Form von Häusern in einem endlos scheinenden Strom vorüber. Hier wird das Eingedenken zum stillen Gebet.

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